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Kammern kaum akzeptiert
Die Pflege ringt um gesellschaftliche Anerkennung - die beste Organisationsform wird noch gesucht
Erst an diesem Montag hatte der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, neben anderen Forderungen auch die nach einer effektiveren Interessenvertretung der Beschäftigten durch Pflegekammern erhoben. Indessen fehlt in Deutschland bisher fast vollständig der Nachweis, dass diese Vertretungsorgane zu einer solchen Leistung auch in der Lage wären. Wünsche und Projektionen hingegen, was eine Kammer leisten könnte und sollte, gibt es genug: Für die Berufs- wie die Weiterbildungsordnung sorgen, den Pflegenden in politischen Gremien der Länder - und dann bald auch auf Bundesebene - eine einheitliche Stimme geben.
Zu den ansonsten in Deutschland verkammerten Berufen gehören Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer oder beratende Ingenieure. Im Unterschied zu den Pflegenden, die mehrheitlich angestellt arbeiten, müssen Vertreter der genannten Berufe der jeweiligen Kammer beitreten und ihren Ausbildungsabschluss nachweisen, wenn sie als Freiberufler tätig werden möchten. Letzteres steht in der Pflegebranche nicht zur Debatte. Hier sind die Löhne deutlich geringer als die Honorare, die von den genannten Freiberuflern regelhaft erzielt werden können. Und so ist die Höhe der Kammerbeiträge, die verpflichtend erhoben werden, allerdings je nach Regelung der einzelnen Bundesländer, der entscheidende Streitpunkt im Für und Wider zu den Pflegekammern. Nicht gerade groß ist die Begeisterung für diese Organe auch bei den Gewerkschaften, die fehlende Tariflöhne vor allem in der Altenpflege als vorrangiges Problem des Berufsstandes sehen.
Pflegekammern gibt es bislang aber nur in vier Bundesländern - wobei diese Zahl auch mehr verbirgt als sie aussagt. Denn in Niedersachsen steht die 2017 gegründete Kammer bereits in der Abwicklung, Ende April hatte der niedersächsische Landtag mit großer Mehrheit ein Gesetz zur Auflösung der Landespflegekammer beschlossen. Allein die Grünen stimmten dagegen. Dem Aus der ständischen Vertretung waren heftige Proteste von Teilen der Pflegekräfte vorausgegangen, die sich vor allem an der Zwangsmitgliedschaft und dabei an der Höhe der Pflichtbeiträge entzündet hatten. In Niedersachsen hatte die Kammer 78 000 Pflichtmitglieder. Nach einem Mitgliederentscheid 2020 hatte die Landesregierung aber die Auflösung beschlossen. Für die Abwicklung bleiben nach dem neuen Gesetz noch sechs Monate. Fortgesetzt werden soll hingegen die Arbeit der Ethikkommission der Kammer, was die Fraktionen von CDU, SPD, Grünen und FDP im Landtag begrüßten. Weitere verbliebene Aufgaben soll nun das Land als Rechtsnachfolgerin übernehmen, etwa die Aus- und Weiterbildungsverordnung für die Pflegeberufe und deren Weiterentwicklung.
Auch eine weitere Pflegekammer der Bundesrepublik, gegründet 2018 in Schleswig-Holstein, wird nicht mehr lange existieren. Im April stimmten fast 92 Prozent von etwa 18 000 Antwortenden (bei fast 24 000 Abstimmungsberechtigten) für eine Auflösung dieser Standesvertretung. Ein Landtagsbeschluss hatte hier die Abstimmung herbeigeführt. Diese eindeutige Ablehnung könne nicht an der Höhe des Pflichtbeitrages liegen, der in dem Bundesland bei 10 Euro pro Monat (in der mittleren Beitragsklasse) liegt, mutmaßen Befürworter. Eines der Probleme seit der Gründung war das Fehlen einer ausreichenden Anschubfinanzierung, so die Kammerpräsidentin Patricia Drube. So konnte man sich nicht von Anfang an um inhaltliche Aufgaben kümmern und den Mitgliedern eben noch keinen Gegenwert für ihre Finanzierung anbieten. Dennoch hat die Kammer im Laufe ihrer Existenz einiges geleistet. So ist ein Berufsregister entstanden, das erstmals zuverlässige Zahlen zu Anzahl und Demografie der Pflegefachpersonen in Schleswig-Holstein liefert. Auf der Haben-Seite stehen außerdem die Grundlagen einer Berufsordnung, der Entwurf einer Rahmenweiterbildungsordnung, Grundlagen für eine Weiterbildungsordnung pädiatrische Pflege sowie eine Studie zu wesentlichen Parametern der Berufszufriedenheit von Pflegenden in Schleswig-Holstein.
Zur Auflösung der Kammer bräuchte es jedoch wiederum ein Landesgesetz. Bis das verabschiedet und umgesetzt ist, wird die Einrichtung öffentlichen Rechts ihre Aufgaben weiter erfüllen. Dann würden letztere vermutlich an die Landesregierung zurückfallen, vor allem was Berufs- und Weiterbildungsordnung betrifft.
Und in Nordrhein-Westfalen wird eine Pflegekammer gerade erst errichtet. Trotz der Probleme in Niedersachsen und Schleswig-Holstein glaubt etwa der NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) enthusiastisch an die Strahlkraft der Einrichtung »auf die ganze Republik«. Laumann, der von 2013 bis 2017 schon Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung war, hält die politischen Ausgangsbedingungen für das Gremium in seinem Bundesland für besser als etwa bei den Nachbarn in Niedersachsen. Auch Laumann kann aber noch nicht absehen, wie die potenziellen Mitglieder auf die künftige, beitragspflichtige Zwangsmitgliedschaft reagieren werden: »An dem Tag, an dem die Beitragsbescheide rausgehen, wird es noch mal spannend«, erklärte er in der Fachpresse. Durch die hohe Zahl der Kammermitglieder im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen könnten vermutlich hohe Beiträge vermieden werden, hofft der Minister.
Die NRW-Kammer wird 200 000 beruflich Pflegende vertreten. Der Errichtungsausschuss hatte bis vor wenigen Tagen die ersten 4000 Arbeitgeber angeschrieben, um die Pflegekräfte registrieren zu lassen. In dem Bundesland muss der Aufbau der Kammer bis Ende März 2022 abgeschlossen sein. Der Errichtungsausschuss startete dazu eine Kampagne unter dem Motto »Wer ich bin? Die Pflege!« Zu deren Auftakt wurde Meike Ista als Botschafterin der Pflege NRW geehrt - sie arbeitet im Knochenmarktransplantationszentrum der Uniklinik Münster und stand im Mittelpunkt einer mehrstündigen Reportage zum Pflegenotstand im TV-Sender Pro7.
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Allein die bundesweit erste Kammer in Rheinland-Pfalz scheint ihre Arbeit in ruhigen Bahnen zu verrichten. Dort wurde von der neuen Landesregierung vor wenigen Tagen der Koalitionsvertrag beschlossen, in dem an sich auf eine Stärkung der beruflichen Pflege geeinigt habe, stellt die Landeskammer zufrieden fest, weil dazu auch eine bessere Vergütung und mehr Personal vorgesehen sind. In der Landespolitik sind in den nächsten vier Jahren flächendeckende Tarifverträge, die Förderung der Akademisierung des Pflegeberufs oder die Unterstützung von Schulen und Einrichtungen bei der Pflegeausbildung vorgesehen - richtige Ansätze aus Sicht des Kammerpräsidenten Markus Mai.
Die Mitglieder wählen ab Ende Juni erneut ihre Vertreterversammlung, aufgestellt wurden 17 Listen, darunter auch zwei der Gewerkschaft Verdi. Dabei gibt es durchaus Dissens mit dem Kammervorstand, etwa wegen dessen fehlender Streikbeteiligung. Mit Ausblick auf die Wahl titelt der Verdi-Landesbezirk, der auch das Saarland umfasst, auf seiner Webseite mit den Worten: »Verdi räumt die Kammer auf.« Möglicherweise kann erst die Besserstellung der Pflege, etwa in Sachen Bezahlung, Aufstiegsmöglichkeiten und Mitbestimmung in den jeweiligen Betrieben, dazu führen, dass eine eigene Berufskammer als angemessenes, erwünschtes und geeignetes Mittel der Interessenvertretung erscheint.
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