Werbung

Eine Pistole an die Schläfe gehalten

Kamil Majchrzak, einst Opfer rechter Gewalt, erinnert an die Baseballschlägerjahre in Frankfurt (Oder)

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn Kamil Majchrzak heute durch Frankfurt (Oder) läuft, schaut er sich immer noch um, wer an der Ampel hinter ihm steht. Wenn er einen Punk sieht, der sich die Schürsenkel seiner Schuhe nicht richtig zugebunden hat, denkt er: »Oh Gott, das ist ja Selbstmord. Wenn Du wegrennen musst.«

Die 1990er Jahre in Ostdeutschland werden seit einiger Zeit im Rückblick als Baseballschlägerjahre bezeichnet – und Kamil Majchrzak weiß genau, wovon sich der Begriff ableitet. Er kam 1995 aus Polen nach Frankfurt (Oder), um Jura zu studieren. Einmal ist er auf dem Weg ins Studentenwohnheim mit dem Baseballschläger angegriffen worden. Der Rektor der Europa-Universität hat ihn dann im Krankenhaus besucht. Einanderes Mal hielt ihm ein Neonazi eine Pistole an die Schläfe.

Majchrzak unterbrach danach sein Studium, ging wieder nach Polen, kehrte aber nach einem Semester Pause zurück und machte seinen Abschluss. Inzwischen lebt er schon lange in Berlin. Das wäre anders gekommen, wenn es nicht auch Menschen gegeben hätte, die ihm in Frankfurt (Oder) halfen. Er erinnert sich an einen Mann mit zwei Rottweilern, der ihn mit den Hunden zum Einkaufen begleitete, um ihn zu beschützen – und an Leute vom Verein Opferperspektive. »Ich glaube«, sagt Majchrzak, »ich war einer der ersten Fälle, den die Opferperspektive in Frankfurt (Oder) betreut hat.« Er erzählt davon am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion der Opferperspektive zum Thema »Brandenburger Baseballschlägerjahre – Wende, rechte Gewalt und Solidarität in Frankfurt (Oder)«.

Krawalle am Grenzübergang

Völlig überraschend kam das alles nicht. Denn das polnische Fernsehen hatte gezeigt, wie am 8. April 1991 ein Pkw Wartburg mit einer angeschweißten Eisenschiene in einen polnischen Bus hineinfuhr. Der mit jenem Tag eingeführte visafreie Grenzverkehr wurde von Neonazi-Ausschreitungen am Grenzübergang in Frankfurt (Oder) überschattet. Bei der Podiumsdiskussion in der Kulturmanufaktur Gerstenberg, die live im Internet übertragen wird, spielt die Regie einen Ausschnitt aus der Nachrichtensendung »Tagesschau« ein. Da ist von 100 bis 150 Neonazis die Rede, die Parolen grölen, die über den Fluss bis nach Słubice zu hören sind: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« Polen zögern deswegen, über die Brücke nach Deutschland hinüberzufahren. Der polnische Rundfunk hat geraten, diesen Grenzübergang zu meiden.

Die Polizei kam sowieso nie

Der ehemalige Hausbesetzer Matthias Dörr weiß noch, dass die Magistrale voller Menschen war, etliche Schaulustige darunter. »Viele fanden gut, was die rechte Szene dort gemacht hat.« Sein Hausprojekt wurde immer wieder von Neonazis überfallen. Irgendwann haben die Bewohner die Polizei nicht mehr gerufen, weil die sowieso nicht zu Hilfe gekommen sei. Einmal wachte Dörr von einem Knistern auf. Ein brennender Balken lehnte an der Eingangstür. Jemand hatte versucht, das Gebäude abzufackeln.

Maria Wojtas kann sich an den 8. April 1991 gut erinnern. Sie hatte Verwandte und Freunde drüben in Polen. Die konnte sie in der Zeit des Kriegsrechts in den 1980er Jahren nur unter großen Schwierigkeiten besuchen. Deshalb war der visafreie Grenzverkehr für sie ein »freudiges Ereignis« und sie war »entsetzt, was sich da abspielte«. Ganz überraschend war es aber auch für sie nicht. Denn schon vorher wurde sie schief angesehen, wenn sie im Laden Polnisch sprach. Bereits in der DDR hatte es Spannungen gegeben, wenn polnische Nachbarn in den Geschäften einkauften – oft wurde behauptet, sie würden »alles wegkaufen«. Wojtas erklärt sich das mit der Mangelwirtschaft hüben wie drüben. Bereits damals sind Polen als Erntehelfer beispielsweise zum Obstpflücken nach Frankfurt (Oder) gekommen.

Sie waren schon Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dort, erklärt Majchrzak. Er sagt das mit Blick darauf, dass Preußen, Österreich und Russland die polnischen Territorien Ende des 18. Jahrhunderts komplett unter sich aufgeteilt hatten und ein großes Stück von da an bis 1918 zu Deutschland gehörte. Daher rührt übrigens auch die Faustregel, jeder vierte Name im Berliner Telefonbuch sei polnischen Ursprungs. Im Ruhrgebiet sind die Verhältnisse ähnlich.

Erniedrigungen in der Ausländerbehörde

Die Neonazis waren in den 1990er Jahren in Frankfurt (Oder) nicht die einzigen, die das Leben hart und gefährlich machten. Die Erniedrigungen in der Ausländerbehörde stehen Majchrzak noch deutlich vor Augen. Er selbst sollte sofort ausreisen, nachdem er sein Studium beendet hatte, dabei wollte er seine Doktorarbeit schreiben. 2002 hatte sich ein Kenianer, der abgeschoben werden sollte, in Panik aus dem Fenster der Behörde gestürzt. Seitdem ist der Mann querschnittsgelähmt.

Was sich seit den Baseballschlägerjahren verändert hat? Dass nicht mehr über die Opfer geredet wird, sondern die Opfer rechter Gewalt für sich selbst reden, sagt Majchrzak.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -