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Überflieger mit Meinung
Radstar Egan Bernal dominiert beim Giro und kritisiert die eigene Regierung
Egan Bernal hat seine Wurzeln nicht vergessen. Als Teenager half er seiner Mutter, Blumen zu verkaufen und brachte so unter anderem das Geld für seine Schulbücher auf. Beim Giro d’Italia sammelt er wieder Blumen ein, jedes Mal wenn er abends auf dem Siegerpodest das rosa Trikot des Gesamtführenden bekommt. Er zeigte sich enorm stark im Staub der Schotterstraßen in der Toskana. Die erste richtige Bergetappe des Giro hat der Kolumbianer ebenfalls gewonnen. Da brach er in Tränen aus; er schätze sich glücklich, für sich, aber auch für sein Land mal wieder einen Sieg im einstigen Ausdauersport der Proletarier und Landarbeiter geholt zu haben, sagte er. »All die Qualen haben sich gelohnt, weil ich jetzt das rosa Trikot habe.«
Bernal, Sohn einer Blumenverkäuferin und eines Wachmanns im Hochland rund um Kolumbiens Hauptstadt Bogota, hat auch im Moment des Sieges seine Herkunft nicht vergessen. Die Proteste in seiner Heimat gegen die Steuerreform des konservativen Präsidenten Ivan Duque verfolgt er auch von Italien aus. Dabei empört ihn die Brutalität, mit der die Polizei gegen die Demonstranten vorgeht. »Was mich besonders beschämt, sind die Toten und vielen Gewaltakte der Behörden gegen die Demonstranten. Das betrübt mich genauso wie das Verhalten der Personen, die Unruhen für Vandalismus ausnutzen«, schrieb er auf Instagram. Beim Thema Gewalt »dürfen wir keine Doppelmoral zeigen«, wandte er sich an beide Seiten.
Er verstehe einerseits die Gründe hinter der Reform, betonte Bernal. Andererseits warf er den Regierenden eine zu große Entfremdung von den sozialen Realitäten weiter Teile der Bevölkerung vor: »Wenn diese Leute unter den gleichen Bedingungen leben würden, wie ein großer Teil der Menschen, würden sie sie nicht derart ausquetschen wollen. Das Land ist in einigen Gegenden in einem desaströsen Zustand. Es gibt schlimmste Armut, Gewalt, Gesundheitsprobleme und Mangel an Bildung.« Ein Land zu regieren sei nicht einfach. Aber die, die an der Macht sind, müssten dazu in der Lage sein. Es sei nun einmal ihre Verantwortung. Der Radprofi, der derzeit in Diensten des Chemiemilliardärs Jim Ratcliffe - Eigentümer des Konzerns und des gleichnamigen Rennstalls Ineos - steht, ergänzte: »Sie müssen den Leuten zuhören und das Beste für sie machen.«
Solch explizite Kritik hört man von Profisportlern selten. Bernal ist auch der erste der kolumbianischen Radprofis, der sich derart weit aus dem Fenster lehnt. Sein Landsmann Nairo Quintana setzt sich zwar stark für soziale Belange ein. Der Vorgänger Bernals im rosa Trikot beim Giro hat vor allem für seine Heimatprovinz Boyaca einiges erreicht. Quintana setzt aber eher auf die Zusammenarbeit mit Politikern. Offene Kritik gegenüber der Staatsmacht vernahm man von ihm bislang nicht. Bernal, mit 22 Jahren schon Sieger der Tour de France, ist also auch auf diesem Gebiet ein Überflieger.
Sein Engagement ist zudem absolut glaubwürdig. Kolumbianische Radsportfans erinnern sich noch gut daran, wie Egan Bernal im Sommer 2014 um Geld für die Reisekosten zur Mountainbike-WM in Norwegen bat. Der damals 17-Jährige sammelte Spenden ein - und gewann die Silbermedaille in der Juniorenkategorie.
Die somit auch früh erworbene Fahrsicherheit im Gelände kam ihm jetzt zugute. Auf der 11. Etappe des Giro über mehrere Schotterabschnitte war er der Beste der Favoriten. Er ließ zunächst lediglich den erfreulich starken Ravensburger Emanuel Buchmann gewähren. »Meine sportlichen Leiter sagten mir, dass er 1:40 Minuten im Klassement zurück lag. Ich hatte also etwas Spielraum«, beschrieb er den entscheidenden Moment sechs Kilometer vor dem Ziel in Montalcino. Wenig später setzte er dennoch seine Gegenattacke, schloss zu Buchmann auf und bezwang den Deutschen im Sprintduell um Tagesrang elf. Alle anderen Favoriten waren längst abgehängt. Bernal bestätigte damit seinen dritten Platz beim Schotterklassiker Strade Bianche im Frühjahr. Er ist zumindest beim Giro derzeit das Nonplusultra: in den Bergen und auf unbefestigten Straßen.
Das Duell der Supertalente um die Vorherrschaft im Radsport ist auf den Herbst verschoben. Bernals Nachfolger als Toursieger, Tadej Pogacar, lässt den Giro aus, Bernal wird dafür bei der Tour fehlen. Der Slowene und der Kolumbianer haben sich aber die Spanienrundfahrt für ein Duell vorgemerkt.
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Jetzt geht es für Bernal erst einmal darum, den Giro zu gewinnen. In der Heimat haben Bernals Erfolge derzeit einen entpolitisierenden Effekt. Statt der Proteste bestimmen seine Erfolge die Schlagzeilen vieler Zeitungen. Doch er selbst sorgt auch dafür, dass es nicht dabei bleibt.
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