Das Meer und die Jahrhundertfrau

Maria Charlotte Wulff erzählt eine sturköpfige Biografie

  • Lesedauer: 8 Min.

Martha Jacoby, hundertjährig, starb am 30. Dezember 2020. Nicht an Corona. Auch nicht mit Corona. Dieses Virusluder hatte sie nicht besiegen können! Mit dem Deibel war sie fertig geworden. Was ihr Rezept gewesen sei, so alt zu werden, hatte vor ein paar Monaten ein Redakteur der Schweriner Volkszeitung gefragt, der sie anlässlich ihres dreistelligen Geburtstages zu interviewen versuchte. Er stand vor der Haustür und hielt das mit Plastikfolie verhüllte Mikrofon am langen Teleskoparm dicht vor ihre Nase. Die Antwort blieb sie ihm schuldig, einfältig lächelnd und auf das wippende Mikro schielend, als wäre sie nicht ganz bei Verstand. Sollte sie ihm und der anonymen Leserschaft etwa offenbaren, dass das womöglich darauf zurückzuführen war, dass sie ihren letzten Sex 1960 gehabt hatte? Nein, nein, dieses Geheimnis, und die Einzelheiten ihres widerständigen Lebens überhaupt, behielt sie für sich. Das ging niemanden etwas an in diesen erbärmlichen Zeiten. Lebten doch ohnehin nur noch wenige Menschen, die ihr wichtig waren.

Die Autorin und ihr Buch

Der Corona-Winter war lang und kontaktarm - und so Gelegenheit für Maria Charlotte Wulff, in sich zu gehen und alles aus sich herauszuholen. Ergebnis ist ihr erster Roman: »Das Jahrhundert der Martha Jacoby«.

Die Rahmenhandlung um die zum Sterbefasten entschlossene 100jährige Martha ist in Schwerin angesiedelt, der Heimatstadt der Autorin - und gleichzeitig eine Liebeserklärung an diese. Am Ende sind Marthas Seele und der Geist des Hauses Jacoby im Abschiedsschmerz vereint. Marthas Familienangehörige und damit die Leser verschlägt es in zahlreiche weitere Städte und Landstriche wie Ostfriesland, Hamburg, Berlin, Wuppertal, Rostock, Kalifornien, Fischland/Darß und das mecklenburgische DDR-Musterdorf Mestlin. Das Buch zieht einen Bogen von 1920 bis zum Corona-Dezember 2020. Ein durchaus tiefgründiges, mit leichter Hand und nicht ohne verhaltenem norddeutschen Humor geschriebenes Werk.

Maria Charlotte Wulff, Jahrgang 1948, lebte bis 1988 in Schwerin, zog mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern nach Rostock und wohnt heute mit ihrem Ehemann an der ostdeutschen Ostseeküste.

Martha, zart, fast schmächtig und auf einhunderteinundfünfzig Zentimeter kurzgeschrumpft, wollte nicht mehr leben. Allein im Haus Jacoby, versorgt von Pflegekräften? Ohne die Hilfe von ihrer Anni gab es dort kein Überleben. Die würde bald von Schwerin fortziehen. Mit Ernst Landwehr. Sie traute sich, mit siebzig Jahren noch einmal heiraten zu wollen: den stillen Mann aus Wuppertal. Martha wollte dem späten Glück der beiden nicht im Wege stehen. Aber sie sollte zusammen mit Anni ihrer lebenslangen Heimatstadt den Rücken kehren. Mit umziehen auf das Fischland, wo der Wessi liebevoll und aufwendig sein Ferienhaus in ein Wohnhaus für zwei Alte und eine Uralte umgebaut hatte. Nein, dreimal nein! Das konnten die zwei ihr noch so bildlich schmackhaft zu machen versuchen. Alternative wäre ein Altersheim. Na, das würde noch fehlen! Das kam noch weniger infrage. Martha wollte im Haus Jacoby sterben. Und, wenn möglich, auf dem alten Friedhof am Obotritenring begraben werden, neben Adolf und ihrem Lieblingsbruder Johann.

FÜNF

Die Geburt seines dritten Kindes am 26. Februar 1928 hätte Gustav Jacoby beinahe nicht lebend überstanden. Nach drei Fehlgeburten, nach der Geburt von Martha und Hans Wilhelm in den Jahren 1920 und 1921 wollte er seine Frau lieber nicht mehr der Hebamme Bornhöved anvertrauen, sondern sie in die Obhut des Stadtkrankenhauses in der Werderstraße geben. Doch Karoline, ein Mecklenburger Sturschädel, fügte sich nicht. Sie verbarg die ersten Wehen vor ihm und hatte so die Hausgeburt durchgesetzt. Sie hätte als Spätgebärende besser auf ihren Mann hören sollen. Die Geburt zog sich wiederum über neun Stunden hin. Karolines Schreie waren noch enervierender für den Mann als bei den vorangegangenen Malen. Er bekam panische Angst um Leben von Frau und Kind. Hebamme Bornhöveds Mimik und Gestik taten ihr übriges, wenn sie mit klatschnassen Haaren an ihm vorbeistrich, um Handtücher zu wechseln oder sich mit Tee zu beruhigen. Sein Angstschweiß schien sich in den Schuhen zu sammeln. Das Herz hämmerte wie wild gegen die Brust. Ihm wurde speiübel. Der Kreislauf spielte verrückt. Die Luft blieb ihm weg. Für einen Moment wurde er bewusstlos und stürzte auf den Dielenboden. Raffte sich auf: »Himmel hilf, ich halte es nicht aus«, schrie der Familienvater und flüchtete zu Martha und Hans Wilhelm ins Kinderzimmer. Dort schlief er vor Erschöpfung ein und verpasste den ersten Schrei seines zweiten Sohnes.

***

Karoline erholte sich lange Zeit nicht von den Strapazen der Geburt und den Nachwehen. Sie blieb schwächlich und von einer vorher nie gekannten Traurigkeit befallen. Gustav zürnte dem unschuldigen Säugling und trug seiner Frau ihre Hinterhältigkeit und seinen Zusammenbruch nach. Das Sonntagskind Johann und seine Schwester Martha waren die einzigen, denen es im Hause Jacoby so richtig gut ging. Ihr, weil sie sich vom ersten Moment seines Daseins in ihn verliebte und ihm, weil sie ihm nicht von der Seite wich. Nichts war für Martha mehr wichtig, nicht die ewig nörgelnde Mutter, nicht der Sorgen geplagte Vater und nicht Hans Wilhelm, der sich ohne sie zunehmend verlor. Hans Wilhelms unsagbarer Kummer um den als Verrat empfundenen Rückzug der geliebten Schwester äußerte sich in Aggressivität und Widerborstigkeit.

Wer weiß, was aus Johann geworden wäre, hätte Martha nicht diese unglaubliche Hingabe zum Brüderchen entwickelt. Sie lernte schnell, wie man einen Säugling umsorgt, dem die Mutter weder Liebe noch Milch zu geben vermochte. Als die Kinderfrau die Schwermütigkeit von Frau Jacoby und die Distanziertheit des Hausherrn nicht mehr aushielt und kündigte, übernahm Martha Mutterpflichten. Nichts und niemand konnte sie in ihrem Bemühen aufhalten. Kein Bruderfluch: »Du malle Kau.« Kein Zorn der Mutter: »Du musst mir bei der Hausarbeit helfen, statt den ganzen Tag Johann zu verwöhnen.« Kein Lockruf des Vaters: »Du fehlst mir in der Werkstatt. Ohne dich gelingt mir keine Farbmischung mehr.«

Martha sorgte dafür, dass Hans Wilhelm in die freigewordene Dachkammer des Kindermädchens vertrieben und die Wiege des Babys ins Kinderzimmer gestellt wurde. Sie kochte Johanns Fläschchen, bevor sie sich auf den Fußmarsch zur Dorfschule in Lankow machte und eilte nach Schulschluss behende wieder zurück. Dass ihre Eltern das Geld für die höhere Töchterschule nicht ausgeben wollten, machte ihr wenig Kopfzerbrechen. Wenn sie Johann großgezogen hätte, würde sie mit ihm zusammen den Malerbetrieb des Vaters fortführen. Dafür brauchte sie kein höheres Bildungsniveau.

SECHSUNDVIERZIG

Seit Adolf und Martha in der PGH beschäftigt waren, erholten sie sich Jahr für Jahr auf dem FKK-Campingplatz von Prerow auf dem Darß. Mitten in den Dünen standen die Zelte der Genossenschaft wie hunderte anderer. Kilometerlanger Sandstrand und die große Freiheit lockten. Wer hier drei Wochen unbeschwerte Ferien genoss, der kam braun gebrannt am ganzen Körper zurück und konnte ein Jahr eingeschränkter Freiheiten bis zum nächsten Jahr locker wegstecken. Drei Diskotheken hämmerten relativ unkontrolliert ihren Mix aus DDR- und West-Beat. Für Adolf und Martha das Paradies, zumal sie am Tage im feinen Sandstrand unterm Sonnenschirm den entgangenen Schlaf der Nacht nachholten.

Als 1978 die Geschichte mit Grundmann ihr Ende fand, überredete Annegret ihre Tochter, auf das Ferienlager zu verzichten und mit ihr im Zelt der Großeltern zu urlauben. Ein wenig eng war es zwar, aber der gewöhnliche DDR-Bürger war bekanntlich genügsam. Die beiden Zusatzcamperinnen lasen gern und viel und mieden weitestgehend die Sonne, da sie nicht so verrückt auf Strand und Meer waren wie die beiden Alten. Annegret bekam auch im Schatten ein bronzenes Goldbraun auf die Haut, und Iris wäre von Sonnenbrand geplagt worden. Sie suchten im Darßer Urwald nach Blaubeeren oder Rehen, wenn sie am Strand mit anderen Campern, nackt wohlgemerkt, genug Volleyball gespielt oder gebadet hatten.

»Nimm auch genügend Mückentötolin mit«, scherzte Adolf, bevor sich Anni, mit Iris im Anhänger, auf das Fahrrad der PGH schwang und losradelte. »Aber ja, lieber Vati, die Gebrauchsanweisung von Herricht & Preil habe ich im Kopf.« Mit Schrecken erinnert sich Martha an die Nacht, als sie und Adolf im Zelt auf einen massigen Mann trafen, der sich auf ihrer Tochter abrackert. Sie waren früher als gewöhnlich von der Disco zurückgekommen, weil ein Gewitter aufkam, Blitze den Himmel erhellten und grollender Donner Sturm und Regen ankündigte. »Rrrraus!«, brüllte sie und zerrte an dem riesigen Menschen, der sich von den Knöcheln mühsam die Hosen hochzog und stolpernd den Tatort verließ. »Sag einmal, wie geschmacklos ist das denn, mit einem wildfremden Mann in unserem Zelt herumzumachen, Anni? Wenn Iris davon wach geworden wäre!!«

»Kann ich ahnen, dass ihr jetzt schon wieder zurück seid? Sonst wart ihr jeden Abend die letzten auf der Tanzfläche und seid erst weit nach Mitternacht gekommen.« An diesem besagten Abend hatte es Annegret aus dem Vorzelt getrieben. Die Luft war stickig. Halbwegs gelangweilt schlenderte sie zum `Seestern´, um ihre Eltern beim Tanzen zu beobachten. Vor der Diskothek stand ein Mann und sprach sie an: »So allein, schöne Frau? Ich habe dich noch nie hier gesehen.« »Kein Wunder, ich campe zum ersten Mal in Prerow. Mit meinen Eltern. Die da mit dem roten Kleid, das ist meine Mutter.«

»Ich komme jedes Jahr. Deine Eltern kennt hier jeder. Die machen der Jugend ganz schön was vor. Mein Wohnwagen steht da hinten. Wo kommst du her? Ich bin aus Schwerin. Kalle«, streckte ihr der Mann die Hand entgegen. »Ach! Schweriner unter sich? Anni. Dann kannst mir ja ´nen Glimmstengel ´rüberreichen.«

»Mach ich glatt.« Wie sich die Geschichte an diesem Abend weiter entwickelte, wissen wir aus der Zeltszene.

***

Zu Marthas Entsetzen ging das unrühmliche Kapitel mit dem Riesen weiter. Kalle, Fleischermeister Karl-Heinz Kurze, und ihre anscheinend sexuell ausgehungerte Tochter wiederholten mehrmals, was beiden offensichtlich sehr viel Vergnügen bereitete. Iris schloss sich notgedrungen bis zum Urlaubsende den Großeltern an. Sie las ihr mitgebrachtes Buch zum zweiten Mal, langweilte sich und wütete. Dann kam es zum Knatsch. Kalles Jungs, fünf und sechs Jahre alt, entdeckten das Liebespaar. In den Dünen: Während das Camper-Volk hingerissen auf das Meer starrte und die untergehende Abendsonne bewunderte, darunter auch Frau Kurze.

Es war nicht so, dass Martha ihr Kind nicht verstehen konnte. Der Mann war eine beeindruckende Persönlichkeit: groß, muskulös und sportlich, hatte eine erotische Bassstimme und einen umwerfenden Optimismus. Anni liebte ihn leidenschaftlich. Er war verrückt nach ihr. Omarta musste Iris beibringen, dass das Strohfeuer nicht allzu lange lodern würde. Die Mama würde bald merken: ›Das ist kein Mann für mich und meine Tochter‹. Iris sollte nicht bockig werden gegenüber der Mutter. So viel Glück hatte die mit Männern bisher nicht. Sollte sie sich ruhig einmal so richtig austoben. Nie vorher hatte Martha ihr Kind so glückselig gesehen.

Doch das Strohfeuer erlosch nicht. Kalle reichte die Scheidung ein und machte Annegret einen Heiratsantrag, den sie strahlend annahm. 1979 kam Heino auf die Welt.

Maria Charlotte Wulff
Das Jahrhundert der Martha Jacoby
Verlag Mövenort
306 S., kt., 14,95 €

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