»Ich habe ewig ›im Schrank‹ gelebt«

Es dauerte Jahrzehnte, bis sich Shadi Amin zu ihrer sexuellen Orientierung bekannte. Heute ist sie eine der bekanntesten iranischen LGBT-Aktivistinnen

  • Negin Behkam
  • Lesedauer: 7 Min.

Shadi, wie sind Sie in der iranischen LGBT-Community zur Tausendsassa geworden?

Meine erste öffentliche Rede zum Thema Homosexualität und wie die Iranerinnen und Iraner damit umgehen, habe ich 1997 in Berlin gehalten. Die Sendung wurde von einem lokalen Fernsehsender ausgestrahlt. Das war ein Schock für die iranische Community in Berlin. Wir haben eine Menge Kritik geerntet: Solche Themen seien nicht angemessen, weil auch viele Familien die Sendung anschauen würden. Ich wurde mehrfach angegriffen. Einmal sogar tätlich, als mich jemand in der U-Bahn erkannt hat. Danach war mir absolut klar, was ich zu tun hatte. Ich selbst hatte jahrelang »im Schrank« gelebt. Wenn es irgendwo andere Leute wie mich gäbe, wollte ich sie ermutigen, sich zu outen.

Interview
Shadi Amin war im siebten Monat schwanger und lebte mit ihrem Ehemann in Berlin zusammen, als sie sich eingestand, lesbisch zu sein. Kurz darauf outete sie sich im Lokalfernsehen. Heute lebt die Geschlechterforscherin offen lesbisch in Frankfurt am Main, ist eine der bekanntesten iranischen LGBT-Aktivistinnen, Co-Vorsitzende der ILGA Asia und Direktorin des iranischen Lesben- und Transgender-Netzwerks 6Rang (Sechs Farben). 

War das dann auch der Anfang Ihres eigenen Coming-outs?

Genau. Dass ich eine Lesbe bin, wusste ich schon im Iran, aber ich konnte es noch nicht richtig verstehen. Als Teenager dachte ich, ich habe ein hormonelles Problem und bin krank, davon war ich fest überzeugt. Aber ich habe diese »Krankheit« nicht gehasst, sie gefiel mir sogar. Mädels haben mir in der Schule viel Aufmerksamkeit geschenkt und mich gemocht. Das war aufregend. (lacht)

Sie waren noch sehr jung, als Sie den Iran verlassen haben …

Als ich aus politischen Gründen aus dem Iran flüchtete, war ich 18 Jahre alt. Als ich in Deutschland ankam, war ich 19. Meine Familie stand wegen meiner Flucht unter großem finanziellen und politischen Druck. Ich fühlte mich schuldig und hatte das Gefühl, dass meine Familie an den Folgen meiner politischen Aktivitäten genug gelitten hatte. Damit sollte nun Schluss sein …

Haben Sie deswegen in Deutschland dann einen Mann geheiratet?

Ja. Wenn ich Menschen erkläre, was erzwungene Heterosexualität bedeutet und wie es dazu kommt, dass du selbst solche Entscheidungen triffst, sagen viele: »Aber du hast dich doch in deinen Ehemann verliebt und ihn geheiratet!« Ja, es schien zwar so, als ob das freiwillig war - selbst meine Familie war überrascht, dass ich heiraten wollte -, aber damals dachte ich, dass ich einen Mann heiraten muss, damit meine Familie zufrieden ist. Ich wollte nicht mehr heimlich leben.

Anstatt öffentlich mit deiner Partnerin auf die Straße oder ins Kino zu gehen, hast du das Gefühl, dass diese Beziehung nur eine heimliche, sexuelle ist. Das klingt demütigend, wenn du mit sexuellen Tabus in der traditionellen und religiösen Gesellschaft des Iran aufgewachsen bist. Damals wollte ich ein normales Leben führen. In meinem Kopf war dieser Wunsch nur mit einem Ehemann möglich. So habe ich den ersten Mann geheiratet, der kein Sexist war, mit dem ich kumpelhaft zusammen war und Fußball spielte.

Haben Sie in Ihrer heterosexuellen Ehe Ihr früheres Leben vermisst?

Manchmal verdrängen wir unsere eigenen Bedürfnisse, weil wir sie für unmöglich halten. Also habe ich fünf Jahre lang nicht einmal an meine früheren Beziehungen zu Frauen gedacht. Aus Angst, dass meine Gedanken gelesen werden und ich mein neues Leben verlieren könnte. Mir ging’s nicht gut. Die ganze Zeit litt ich an Hautproblemen, Schlaflosigkeit und ständigem Stress.

Was ist passiert, dass Sie diese Umstände überwinden konnten?

Als ich schwanger wurde, fing ich an, die Situation, in der ich mich befand, und meine Zukunft genauer zu betrachten. Ich vermisste mein früheres Leben und das, was ich wirklich bin. Im siebten Monat meiner Schwangerschaft wusste ich, dass ich definitiv nicht so weiterleben wollte. Meinem Mann sagte ich schon damals, dass ich nicht bei ihm bleiben kann. Aber ich wollte noch warten, bis meine Tochter kein Baby mehr ist. Denn dann konnte ich mit ihr reden und meine Geschichte erzählen.

Wie hat er reagiert, als er von Ihrem Lesbischsein erfuhr?

Er nahm es nicht ernst. »Ach, das wusste ich«, sagte er. Er selber fand seine Reaktion sehr gut, ich fand das schmerzlich. Das war mein erstes Coming-out vor jemandem, der mich kannte. In all den Jahren hatte ich mich seinetwegen nicht geoutet!

Welche Reaktion hätten Sie sich von ihm gewünscht?

Es gibt da eine Pflicht: Wenn wir jemanden um uns herum kennen, der sich nicht outet, wir es aber schon vermuten, dann müssen wir klare Haltung zeigen. Wir sollten eine Möglichkeit zum Reden schaffen!

Wie ging Ihre Familie im Iran mit Ihrem Coming-out um?

Mein Vater kam 2000 wegen der Behandlung einer Gehirnblutung nach Deutschland. Ich lebte damals mit meiner Partnerin in Berlin-Kreuzberg und wusste nicht, wie lange er noch leben wird. Trotzdem wollte ich, dass auch er das weiß. Für mich war es wichtig zu wissen, ob meine Eltern mich so lieben, wie ich wirklich bin, oder ob sie nur ihr Bild von mir lieben. Meine damalige Partnerin hieß Jule. Für meine Eltern war es nicht einfach, als sie kamen und uns sahen. Jule hatte Persisch gelernt, um mit ihnen sprechen zu können. Am Anfang versuchte mein Vater, dem Gespräch mit ihr zu entkommen. Doch nach und nach begann er, eine gute Beziehung zu ihr aufzubauen. Meine Mutter sagte damals: »Erzähl das nicht allen, die noch im Iran sind.« Ich fragte nach dem Grund. Sie sagte, weil es so viele dumme Leute gäbe: »Sie könnten Dinge sagen, die dich verletzen.« Ich wusste aber, was hinter diesem Satz steht: meine Geschichte könnte auch ihnen Schwierigkeiten bringen. Aber am Ende des Tages haben sie sehr solidarisch reagiert und mich so, wie ich war, akzeptiert und geliebt.

Sie betonen oft, dass das Coming-out ein Prozess ist und keine einmalige Angelegenheit. Wie meinen Sie das?

Wenn ich dich beispielsweise auf einem Konzert sehe, weißt du noch nicht, dass ich eine Lesbe bin. Und genau das ist ärgerlich: nicht gesehen zu werden! Wir befinden uns ständig in einem heteronormativen Prozess, der äußerst schädlich ist, da unsere Emotionen, unsere Realität überhaupt nicht wahrgenommen werden. Wir werden vom Moment unserer Geburt an mit einem heterosexuellen Label versehen. Unsere Homosexualität ist in vielen Situationen offensichtlich und in vielen anderen bleibt sie verborgen. Daher erfolgt das Coming-out ständig. Außerdem sehen viele Menschen deine Identitäten nicht miteinander verflochten. Deshalb reden wir von Intersektionalität, denn die Identität, die zuerst geopfert wird, ist oft deine sexuelle Identität.

Sehen Sie im Coming-out auch eine politische Verantwortung?

Die Gesellschaft hat nicht das Recht, von Menschen mit anderer sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verlangen, Verantwortung für die Aufklärung einer Gesellschaft zu übernehmen, in der so viel Gewalt gegen Homos ausgeübt wird. Diese Verantwortung liegt in erster Linie bei denjenigen, die Macht und eine Stimme haben. Tatsächlich sollten die Heterosexuellen und Cisgender mehr tun, um das zu ändern. Die Aufgabe, die Gesellschaft zu erziehen, wird in der Geschichte ständig den Unterdrückten überlassen: Frauen sollen Männer disziplinieren, Homos die Heteros … Das ist absurd. Sich zu outen ist ein Recht - und sich nicht zu outen ist genauso ein gutes Recht!

In der weißen queeren Community ist einiges anders als bei queeren BPoCs - Black and People of Color. Denken Sie, dass es trotzdem möglich ist, sich mit der weißen LGBT-Community zu vereinen?

Bei unserem Kampf geht’s ums Überleben. Viele leben in ständiger Angst vor Verhaftung, Folter und sogar Hinrichtung. Solange die weiße queere Community unsere schwierige Lage nicht sieht und nur erwartet, dass wir die Fortschritte der weißen Queers anerkennen und feiern, ist eine Einigung unmöglich. Sie protestieren kaum gegen die homofeindliche Politik der Länder, mit denen Deutschland enge wirtschaftliche Beziehungen führt, wie zum Beispiel dem Iran. Sie setzen ihre Regierungen nicht unter Druck, wenn die Islamische Republik Iran lesbische, schwule und Trans*Personen verhaftet und sie kriminalisiert. Hätten die weißen Queers was dagegen getan, hätten sie sich selbst geholfen. Man kann keine Blumen im Garten pflanzen und ihren Anblick genießen, wenn die andere Hälfte des Gartens schlammig ist.

Solange wir uns in einer solchen Situation befinden, ist es sinnlos, über globale Solidarität zu sprechen. Es ist eine Schande: Während wir in einem Teil der Welt über die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht für schwul-lesbische Paare diskutieren, haben Lesben und Schwule in einem anderen Teil der Welt kein Recht auf Leben!

In Deutschland hat die LGBT-Community viele Vorbilder. In vielen anderen Ländern, auch im Iran, ist das nicht der Fall. Dort sind Sie eine der wenigen Vorreiterinnen. Wie fühlt sich das an?

Da habe ich gemischte Gefühle: Gemeinschaften und soziale Gruppen, die beginnen, sich selbst zu definieren, werden immer durch bestimmte Persönlichkeiten und Vorbilder definiert. Wenn die Gruppe wenige Vorbilder hat, wird die Verantwortung für Einzelne größer. Ich halte es für wichtig, vielfältige Vorbilder zu haben.

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