Ich kann beim besten Willen keinen Klassenkonflikt entdecken

In ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten« stützt sich Sahra Wagenknecht auf jüngere soziologische Untersuchungen - wie die Theorie der neuen Mittelklasse von Andreas Reckwitz. Der wiederum attestiert der deutschen Soziologie Abwehrreflexe

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 9 Min.

Kürzlich saß ich mit ein paar anderen Lifestyle-Linken in Berlin-Kreuzberg zusammen. Unser Leben spielt sich irgendwo zwischen Berlin, London, Paris, Rotterdam und der Weltmetropole Gelsenkirchen ab, alle machen etwas mit Kunst oder Medien, Hochschulabschluss und Sprachkenntnisse inklusive. Zugleich ist das Leben prekär, festes Einkommen ist ebenso eine Seltenheit wie Plus auf dem Konto am Monatsende. Manche haben entsprechende Eltern als Sicherheitsnetz, das macht die Projektexistenz einfacher. Den Kapitalismus finden alle auf ihre Weise dumm und verachtenswert, ohne dass wir uns allzu ernsthaft für seine Überwindung einsetzen. Man muss uns um die 30-Jährige auch verstehen, handeln haben wir nicht gelernt, konsumieren dafür sehr und entsprechend verwechseln wir das gerne. Ironisch sprechen wir fließend, wir Lifestyle-Linken.

Dann kam das Gespräch auf Sahra Wagenknecht. Die belebende Wirkung auf den Abend sollte man durchaus nicht unterschätzen. Nachdem die erste Schicht unmittelbarer Abwehr durchdrungen war, kamen verschiedene Einschätzungen zur Sprache. So stand der Verdacht im Raum, der Marxismus sei seit jeher eine Art Lobbyorganisation alter weißer Männer gewesen. Eine grob falsche Behauptung, im Gegenteil sei er immer ein Mittel im Kampf der Unterdrückten aller Länder gewesen, wurde erwidert. Niemand wolle Klassen- gegen Sozialpolitik ausspielen, hieß es dann wie so oft. Und doch war die Skepsis gegenüber sozialen Emanzipationsbewegungen weit größer als gegenüber solchen, die sich im Gewande partikularer Identitäten präsentieren. Das eine gilt als gestrig, das andere als sehr heutig. Wenn wir also für das eine oder das andere Partei ergreifen, teilen wir auch ein Selbstbild mit. Und das muss gepflegt werden, wer weiß, ob sich das später auszahlt oder rächt (unser Milieu kann grausam sein). Oft hat man aber in solchen Diskussionen den Eindruck, dass man weniger gern über sich selbst als politisches Wesen spricht, umso lieber über nicht genauer bekannte »Betroffene«.

Gespaltene Gesellschaft?

In ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten« vertritt Wagenknecht die These, dass in Folge von Automatisierung, Deindustrialisierung, Degradierung der Industriearbeiterklasse, Bildungsexpansion, Aufschwung der Wissensökonomie sich in den Mittelklassen hierzulande eine Spaltung ergeben habe. Während sich ein Teil in der Dienstleistungsgesellschaft erfolgreich durchsetzen kann, stagniert ein anderer Teil und ein dritter werde als akademische Unterklasse direkt abgehängt. Mehrfach wird angedeutet, dass die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Klassen nicht in erster Linie von der Stellung im Produktionsprozess, sondern mehr von der Möglichkeit einer Erbschaft abhängt. Das dürfte auch die Folge der generellen politischen Schwäche der Arbeiterklasse sein, der Lohn sichert gerade noch die Existenz, Vermögensbildung und sozialer Aufstieg sind im Dienstleistungsprekariat jedoch nicht zu erwarten. Die Spaltung zeige sich aber vor allem auch in ihrer Haltung zur Welt: Die neue Mittelklasse verkörpert im Gegensatz zur alten Mittelklasse den Idealtypus der Wissensökonomie - gebildet, flexibel, weltoffen. Sie ist in der besseren Position und meinungsführend.

Für Wagenknecht muss man sich die neue Weltoffenheit allerdings leisten können. Denn die »offene Gesellschaft« hat ausgesprochen viele unsichtbare Grenzen, die entlang der individuellen Kaufkraft laufen. Während für immer mehr Menschen die soziale Herkunft zum Schicksal wird, ist die öffentliche Rede von der Selbstverwirklichung ungebrochen. Doch es zeigen sich Brüche: An Wahlen, dem erklärten Herzstück demokratischer Herrschaft, beteiligt sich ein immer kleinerer Kreis. Das Mediengeschehen gleicht teils einem gespenstischen Selbstgespräch. Und selbst eine mediale Aufwertung kann mit realer Schlechterstellung einhergehen. »Anerkennung« und »Respekt«, die symbolisch gewährt werden, sind auch deswegen beliebt, weil sie eine billige Währung sind: Charity statt Veränderung. Durch solche Symbolpolitik wird soziale Herrschaft verfestigt statt erschüttert. Das Private ist politisch, das war einst als Erweiterung des Politikbegriffs gedacht, nun ist es eine Beschränkung. Auf den identitätspolitischen Separatismus ist Wagenknecht entsprechend nicht gut zu sprechen.

»Den gesellschaftlichen Wandel der zurückliegenden Jahrzehnte einseitig in eine große Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte umzudeuten, ist die Lebenslüge der Gewinner, mit der eine Entwicklung schöngeredet wird, die für die Mehrheit der Menschen weit mehr Verluste als Verbesserungen gebracht hat«, heißt es in die »Die Selbstgerechten«. Wagenknecht stützt sich in ihrer Analyse auf prominente soziologische Arbeiten der vergangenen Jahre. Das sind Lutz Raphaels »Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom«, Arlie Russell Hochschilds »Fremd in ihrem Land: Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten«, Thomas Piketty mit »Kapital und Ideologie«, nennen könnte man auch noch Oliver Nachtweys »Die Abstiegsgesellschaft« und weitere. Es sind Untersuchungen, die nach dem Zusammenhang von Veränderungen des Kapitalismus, von Klassenlage und -bewusstsein sowie politischen Konsequenzen fragen. Am einflussreichsten, insbesondere für die Theorie der neuen Mittelklasse, ist aber der Soziologe Andreas Reckwitz mit »Die Gesellschaft der Singularitäten« und »Das Ende der Illusionen«.

Die neue Mittelklasse

Wenn man sich einen Eindruck verschaffen möchte, welche Debatte sich um die neue Mittelklasse entwickelt hat, helfen die letzten beiden Hefte der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft »Leviathan«. Nils Kumkar und Uwe Schimank greifen das Konzept in ihrem Beitrag im Sonderheft zu »Gespaltene Gesellschaft?« an. Das Phänomen sei weitaus komplexer und schwer einzugrenzen, auch Befragungen hätten keine klare Zugehörigkeit ergeben. Kurz: Wenn man nach der neuen Mittelklasse fragt, will es niemand gewesen sein. Das allerdings könnte eher Teil des Problems sein. Bemerkenswert ist die Erwiderung von Andreas Reckwitz unter dem Titel »Auf der Suche nach der neuen Mittelklasse«. Er plädiert nämlich für eine Soziologie, die sich nicht im positivistischen Empirismus verliert, sondern auch Gesellschaftstheorie mit Karl Marx und Max Weber betreibt. Er betont, dass ein solches Denken in Zusammenhängen keineswegs nebensächlich ist: »Immerhin steht die Fähigkeit der Soziologie, die Gegenwartsgesellschaft zu begreifen, auf dem Spiel, und das ganz ohne Scheuklappen hinsichtlich dessen, wie man es gerne hätte.«

Im Zuge seiner Replik fast Reckwitz seine Theorie nochmals zusammen. Deindustrialisierung, Wissensökonomie, Bildungsexpansion und Wertewandel bilden den Ausgangspunkt. Die neue Mittelklasse sei nicht nur das Produkt jener Entwicklungen, sondern auch deren Treiber. Überhaupt, und hier wird Reckwitz grundsätzlich, könne man sich Gesellschaft nicht wie Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann als subjektlosen Kommunikationszusammenhang vorstellen, sondern man brauche eine Theorie der sozialen Trägergruppen bestimmter Prozesse: also eine Klassentheorie. In der neuen Mittelklasse verbinde sich die »investive Statusarbeit« mit einem »expressiven Individualismus«. Und der Konflikt ergebe sich, weil sich jene kritische Bildungselite durch großes Systemvertrauen, Zufriedenheit mit der Marktwirtschaft und Glauben an den Modernisierungsprozess auszeichnet, während in der alten Mittelklasse und im akademischen Prekariat der Anteil der Verunsicherten und Enttäuschten immer weiter zunimmt.

Dass eine Klassengesellschaft eben Klassenkonflikte hervorbringt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Doch so einfach ist es mit der neuen Mittelklasse nicht. Reckwitz schreibt, es sei »bemerkenswert, welchen Widerständen man namentlich in der deutschen Soziologie begegnet, wenn man sich für die Binnenstrukturen dieser Klasse und für ihre gesellschaftliche Relevanz interessiert«. Wenn schon Klassen, schaue man gerne nach ganz unten oder ganz oben, das erspare auch eine mögliche Selbstbeobachtung. Politisch wisse man bei den Mittelklassen sowieso nicht, woran man sei, auch interessiere man sich wenig für deren kulturelle Praktiken, fasst es der an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende Soziologe zusammen. Die Abwehr der Theorie der neuen Mittelklasse und überhaupt einer spekulativen Gesellschaftstheorie fällt nach Reckwitz mit einem Abwehrreflex zusammen, der Selbsterkenntnis und -kritik verhindert. Nun kam die Debatte richtig ins Laufen, im folgenden Heft von »Leviathan« fanden sich mehrere darauf Bezug nehmende Texte - und es dürften nicht die letzten gewesen sein.

Wagenknecht und die Lifestyle-Linken

Nun ist die Lage bei Wagenknechts »Die Selbstgerechten« paradox: Einerseits gilt das Buch als »umstritten«, andererseits ist eine grundsätzliche Debatte über die klassentheoretischen Grundlagen und entsprechende strategische Schlüsse kaum zu vernehmen. Statt einer politischen Auseinandersetzung dominieren Abwehrreflexe. Somit wird die Diskussion - wie durch die Skandalisierung einzelner Formulierungen, auch so eine Marotte - unter Niveau geführt. Vor allem wird das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgeschüttet; denn die Antwort auf eine nicht in allen Teilen überzeugende Gesellschaftstheorie kann niemals der Verzicht auf Gesellschaftstheorie sein. Die beste Kritik hingegen nimmt sich den schwierigsten Punkt vor. Für die Öffentlichkeit einer linken Partei und ihres Umfeld sollte es unerlässlich sein, den Austausch von Analysen, Einschätzungen und Meinungen zu fördern. Denn zu einer besseren Einschätzung der Lage dürfte man nur kommen, indem man sich argumentativ aneinander abarbeitet. Eine linke Partei muss offen über ihren Kurs diskutieren - und auch über ihre Fehler. »Wir dürfen unsere Fehler nicht verheimlichen, weil der Feind das ausnutzen könnte«, sagte ein berühmter Parteiführer einst.

Einerseits wären also die Analysen zu diskutieren. Wie ist die Klassengesellschaft beschaffen, welche Rolle spielt die neue Mittelklasse, gehen Wirtschafts- und Linksliberalismus oder »Zivilgesellschaft« und Herrschaft zusammen, inwieweit bedingt das den Erfolg der Rechten, das wären ein paar Fragen neben vielen weiteren. Andererseits wären die programmatischen Schlüsse zu diskutieren. Da dürfte sich zeigen, dass im Sinne einer konfrontativen Klassenpolitik durchaus andere zu ziehen wären, zugleich aber die von Wagenknecht vorgeschlagenen ihre Schwächen möglicherweise eher daran haben, sich am jetzigen Rahmen der parlamentarischen Politik zu orientieren. Das aber wäre nicht ihr persönlich vorzuwerfen, sondern muss als politische Schizophrenie einer Partei verstanden werden, die sich immerhin allerorten zum Regieren anbietet. Das könnte in noch ganz andere Kalamitäten führen - vor allem angesichts des überschaubaren parlamentarischen, aber auch außerparlamentarischen Erfolgs. Die grundsätzliche Herausforderung, die Gesellschaft und ihre Konflikte zu verstehen und entsprechend in ihnen zu wirken, besteht objektiv.

Dass eine linke Partei in mehrere konkurrierende opportunistische Flügel zerfällt, von denen sich einer verbalradikal und ein anderer entgegengesetzt verhält, ist möglicherweise weder besonders ungewöhnlich noch schlimm. Der erwähnte Parteiführer, namentlich Lenin, hatte mit ähnlichen Situationen zu tun. Das Schlimmste, sagte er, ist die dadurch entstehende Konfusion. Folgt man der Analyse von Reckwitz und Wagenknecht, dass es einen objektiven Konflikt in der Mittelklasse gibt (und nicht nur dort), wäre es geradezu absurd, wenn der sich nicht auch in linken Parteien und Organisationen zeigen würde. Ihn zu realisieren statt zu übergehen oder gar zu leugnen, wäre eine Voraussetzung für eine eigenständige Haltung der Linken, welche sich nicht wie selbstverständlich an der neuen Mittelklasse und ihren Ideen orientiert. In unserer Runde mit Lifestyle-Linken gab es zu später Stunde außerdem noch ein versöhnliches Schlusswort. Gut und wichtig an Wagenknecht sei doch, dass sie Dinge anspricht, die sonst kaum artikuliert werden, dass sie gewissermaßen die Finger in die Wunde legt. Die ist noch immer die Klassengesellschaft, da muss man ansetzen. Mit theoretischer Analyse und auch mit Selbstkritik.

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Campus, 345 S., geb., 25 €.

Leviathan - Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Ausgaben 1/2021 und 2/2021

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