- Kultur
- Bewältigungsstrategien von Opfern sexueller Gewalt
Unbewusste Gewalt
JEJA NERVT: Unsere Sensibilisierung für sexuelle Übergriffe muss wachsen, damit wir sie als solche Erkennen können
Im Prozess gegen einen Berliner Arzt, der in seiner Praxis mehrere Männer sexuell angegriffen haben soll, erzählen die mutmaßlich Geschädigten von erschütternden Taten. Doch nicht nur das, was im Behandlungszimmer passiert sein soll, hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Auch die Bewältigungsstrategien der Betroffenen, das Leugnen vor sich selbst, das Zweifeln und das »Mitmachen« zum Selbstschutz geben Einblick in die dunklen Abgründe der sexuellen Gewalt und ihre Psychologie.
Bekannt sind solche Bewältigungsstrategien vorwiegend bei Frauen. Sich die Geschichten von Männern zu vergegenwärtigen, kann dabei helfen, das Wesen sexueller Gewalt unabhängig vom Geschlecht der Opfer besser zu verstehen.
Da ist der Nebenkläger vom siebten Verhandlungstag. Er erzählte dem Gericht, wie der Arzt überraschend unter dem Vorwand eines Abstrichs mit den Fingern in ihn eingedrungen sei. Von der Situation überfordert, habe er schließlich versucht, seine Handlungsmacht durch »Mitmachen« wiederzugewinnen. Einer Aufforderung des Arztes, begleitend zum Geschehen zu masturbieren und zum Orgasmus zu kommen, sei er darum nachgekommen. Auf die Nachfrage, warum er nicht wütend »Nein« gesagt habe, gab der Zeuge an: den Arzt eines sexuellen Übergriffs zu beschuldigen »geht doch nicht«. Außerdem sei er in einer ausgelieferten Situation gewesen.
Als der Arzt sich nach der mutmaßlichen Tat durch eine Umarmung habe verabschieden wollen, habe der Zeuge dies mit Verweis auf die »professionelle« Arzt-Patienten-Beziehung jedoch wieder abwehren können. Der Beschuldigte wiederum bestreitet eine sexuelle Intention der Behandlungsschritte. Vielmehr habe sich das mutmaßliche Opfer sexuell provozierend verhalten.
Ein Zeuge, der selber nicht geklagt hat, sagte aus, der Arzt habe 2013 bei seinem Besuch in der Praxis »eine rote Linie überschritten«, jedoch sei auch alles mit »Einverständnis« geschehen. Der Arzt habe den Penis des Zeugen stimuliert, bis dieser zum Orgasmus gekommen sei. Er habe zwar selber den Vorfall nicht als störend empfunden, sei jedoch zur Polizei gegangen, um seinen Bekannten, einen der jetzigen Nebenkläger, zu unterstützen. Dass seine Aussage bei der Polizei 2014 weitere sexuelle Handlungen enthält als nun seine Einlassung bei Gericht, erklärte sich der Zeuge mit der geringen Bedeutung für ihn. Er habe mit der Begründung, dass in der schwulen Szene entsprechende Scherze über den Angeklagten kursiert seien, nicht viel »Wert auf den Vorfall gelegt«.
Auch ein ehemaliger Partner habe beim Arzt eine entsprechend negative Erfahrung gemacht, sich aber mit seinem »Nein« durchsetzen können. Von ihm wisse der Zeuge, dass er nicht aussagen wolle.
Ein weiterer Nebenkläger habe gleich zu Beginn gemerkt, dass bei der Untersuchung etwas anders sei. Er habe sich nach Verlassen der Praxis, in der die detailliert geschilderte Vergewaltigung stattgefunden haben soll, verwirrt gefühlt, beinahe einen Unfall im Straßenverkehr verursacht und dann ein Café aufgesucht, um ein Gedächtnisprotokoll an seinem Computer anzufertigen. In dem Dokument beschreibe das mutmaßliche Opfer seine Gefühle »zwischen Verwunderung, Erregtheit und Abwehr« mit dem Wunsch, »nichts bewerten« zu wollen, wie es in der Berichterstattung des Nachrichtenportals »Queer.de« beschrieben wird. Zwei Tage später habe er sich einem Therapeuten geöffnet und realisiert, dass es sich beim Erlebnis um einen Übergriff gehandelt habe. Der Beklagte gibt an, sich nicht an den Zeugen erinnern zu können und bestreitet einen Übergriff.
Vorausgesetzt, die Schilderungen entsprechen der Wahrheit, was aufgrund der Unschuldsvermutung unter einem Fragezeichen zu stehen hat: die Einlassungen über die psychischen Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen entsprechen dem, was insbesondere von weiblichen Opfern von Vergewaltigungen bekannt ist. Und sie werfen die Frage auf: wenn es für Betroffene so schwer ist, das Geschehene einzuordnen - wie viel Gewalt hat eigentlich in unser aller Leben stattgefunden, die wir nicht als solche erkennen konnten?
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.