Puzzlestücke setzen Zeichen

Im thüringischen Arnstadt gewährt eine Ausstellung aufschlussreiche Einblicke in die jahrhundertealte jüdische Geschichte der Region

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Sache mit den Emotionen ist eine, über die Antje Vanhoefen und Reinhard Schramm länger sprechen - und auf die sie immer wieder zurückkommen. Immerhin, sagt Schramm, sei die Geschichte des jüdischen Lebens in Arnstadt für ihn überhaupt nichts Emotionsloses. Nicht für ihn, den Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Und auch nicht für die Menschen oder die Nachfahren derer, die im 20. Jahrhundert von den Nazis aus der Stadt und der Region vertrieben und vielfach später ermordet worden sind.

Doch kann das so auch für Vanhoefen gelten, die Direktorin des Schlossmuseums in Arnstadt? Immerhin, sagt sie, sei es doch eigentlich Anspruch des Museums, das Leben von Juden in Arnstadt und der angrenzenden Region so »objektiv wie möglich« darzustellen. Dabei also eigentlich möglichst wenig emotional zu sein. Schramm, vor einer Thorarolle im Schlossmuseum stehend, nickt und wirft kurz ein, dass er das aus der Sicht eines staatlichen Museums verstehe.

Die Ausstellung

Die Ausstellung »Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue« im Schlossmuseum in Arnstadt sollte eigentlich bereits für Besucher zugänglich sein. Die Corona-Pandemie hat das bislang verhindert. Allerdings ist ein Festakt zur Ausstellungseröffnung bereits aufgezeichnet worden und online etwa auf der Internetseite www.kulturbetrieb-arnstadt.de abrufbar. Wann Besucher die Ausstellung werden erleben können, ist noch nicht absehbar. Die Ausstellung soll bis Mitte November 2021 im Schlossmuseum zu sehen sein. Sie ist Teil des Thüringer Themenjahres »Neun Jahrhunderte jüdisches Leben«. sh

Doch dann fährt Vanhoefen fort: »Aber natürlich ist das bei diesem Thema sehr schwierig - man kann an dieses Thema nicht emotionslos rangehen.« Immer spielten Fragen von Schuld und Verantwortung eine zentrale Rolle, wenn man sich in Deutschland mit jüdischer Geschichte befasse. Selbst dann, wenn es dabei nicht nur um das 20. Jahrhundert, sondern auch um die Jahrhunderte davor und das Jahrhundert danach gehe.

Inmitten der Räume voller Vitrinen und Texte stellt sich deshalb einmal mehr die Frage, wie es die Deutschen heute mit dem jüdischen Teil ihrer Geschichte halten, die im Falle von Arnstadt spätestens im 13. Jahrhundert begonnen hat. Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in der Stadt datiert auf den 1. Februar 1273. In dem entsprechenden Dokument, von dem im Schlossmuseum nur ein Foto zu sehen ist, weil das Original als zu fragil gilt, um es auszustellen, ist von Steuern, Geldstrafen und sonstigen Einkünften der Obrigkeit die Rede, die Christen und Juden gleichermaßen zu tragen hätten.

Dass diese große Frage nach dem Verhältnis der Deutschen zur deutsch-jüdischen Geschichte diese Ausstellung mit dem Titel »Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue« durchdringt, liegt maßgeblich daran, dass sie lokalgeschichtlich und welthistorisch zugleich ist. Dass sie ebenso im Kleinen geborgen wie dem Großen zugewandt ist. Dass sie zwar fokussiert auf die Geschichte der Juden im 19. und 20. Jahrhundert ist - sein muss, weil es für diese Jahrzehnte einfach sehr viel mehr Überlieferungen gibt -, dass sie aber die langen Linien des jüdischen Lebens in Arnstadt und Umgebung nicht vergisst, die eben bis ins Mittelalter zurückreichen.

Schramm ist deshalb voll des Lobes über diese Ausstellung, an der Vanhoefen und andere etwa zwei Jahre lang gearbeitet haben. »Hier ist unglaublich viel wissenschaftliche Arbeit geleistet worden«, sagt er. Vor allem der Begleitband zur Ausstellung begeistert ihn. »Unter all den lokalgeschichtlichen Studien zum jüdischen Leben in Deutschland, die ich kenne, ist dieses Buch ziemlich einzigartig«, sagt Schramm.

In dem Buch werden nicht nur - wie das bei solchen Katalogen üblich ist - die zentralen Ausstellungsstücke vorgestellt und beschrieben. In dem mehr als 200 Seiten starken Band finden sich zum Beispiel auch Zeitzeugenberichte beziehungsweise Briefe von Juden über ihr Leben in Arnstadt sowie eingangs ein längerer Text, der sich auf die Spur von jüdischen Identitäten begibt. Verfasst hat ihn Jascha Nemtsov, der an der Musikhochschule in Weimar den Lehrstuhl für die Geschichte der jüdischen Musik innehat.

Darin schreibt Nemtsov unter anderem, Jude zu sein, ziele eigentlich darauf ab, eben kein Opfer zu sein - auch wenn die Judenverfolgung im Kontext der deutschen Geschichte ein zentrales Thema sei. »Jude zu sein, bedeutet für die Deutschen, Opfer zu sein: schwach, bedürftig, leidend. Diskriminiert, vertrieben, schließlich tot.« Nemtsov hält das aber für eine Verzerrung dessen, was das Jüdische eigentlich ausmacht. »Selbstbestimmung, Freiheit und Eigenverantwortung sind der Kern des Judentums als Religion, Kultur, Weltbild und Lebensauffassung«, schreibt Nemtsov - etwas, das aus Sicht von Schramm und Vanhoefen gar nicht oft genug betont werden kann.

Diese Ambivalenz findet sich entsprechend auch in dem, was Vanhoefen und andere, die an der Ausstellung gearbeitet haben, in den vergangenen Monaten zusammentrugen, wobei die Zeit zu rasen schien. Zeugnisse davon, dass Juden in der Stadt selbstbestimmt gelebt haben; dass sie während des Holocausts Opfer waren; dass der Blick in der Vergangenheit auf sie nicht nur schwarz oder weiß war. Unter dem, was in der Ausstellung vorgestellt wird, ist Biografisches, Wirtschaftliches, Künstlerisches.

Wie etwa die Lebensgeschichte von Siegmund und Eugenie Hirschmann, die 1933, als Eltern zweier Kinder, Goldene Hochzeit feierten - und deren Leichen zehn Jahre später im Krematorium des Konzentrationslagers Buchenwald verbrannt wurden. Sie sollten 1943 von Arnstadt ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht werden, starben aber schon kurz nachdem sie sich in der Hände der Gestapo begeben mussten.

Wie etwa eine lange Liste von Unternehmen, deren Inhaber Juden in Arnstadt im 19. und 20. Jahrhundert waren - darunter vor allem Unternehmen im Vieh- und Lederhandel oder im Handel mit Bekleidung, aber nur zwei Banken.

Wie etwa das Abbild einer schon viele Jahrhunderte alten Darstellung, die sich auf Glasfenstern in der Liebfrauenkirche in Arnstadt findet. Auf diesen bunten Fenstern ist die Passion Christi abgebildet und das, was Juden angeblich dazu beigetragen haben, als sie - ja, was eigentlich?

Vanhoefen sagt, während man in der Vergangenheit oft angenommen habe, auf einem der Fenster sei zu sehen, wie ein Jude Christus von hinten stoße, als der das Kreuz trage, sei bei genauem Hinsehen auch eine andere Deutung des Motivs möglich. Nämlich die, dass der Jude Christus dabei helfe, seine Last zu schultern. Nicht einmal mit der christlichen Sicht auf Juden sei es also so einfach, wie es oft scheine, sagt Vanhoefen.

So akribisch man im Schlossmuseum bei der Erstellung der Ausstellung auch gearbeitet und dabei den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion zusammengetragen hat, so sehr wünschen sich Vanhoefen und Schramm gleichermaßen, dass diese Ausstellung nicht der Endpunkt für die Auseinandersetzung in der Stadt und der Region mit jüdischer Geschichte ist. Im Gegenteil. Gerade Vanhoefen setzt darauf, dass diese Ausstellung das tut, was gute lokalhistorische Ausstellungen immer wieder vermögen - nicht Endpunkt, sondern Wegmarken sein.

Erstens: Vanhoefen setzt darauf, dass Menschen, die die Ausstellung besuchen oder den Begleitband durchblättern und zum Beispiel auf ihren Dachböden Zeugnisse von jüdischem Leben in der Stadt finden, deren Macher daran teilhaben lassen. Noch immer gebe es dabei nämlich Puzzleteile, die sich nicht aneinanderreihen ließen, weil andere Puzzleteile fehlten, sagt Vanhoefen. So sei beispielsweise unklar, wie die ausgestellte Thorarolle, die offenbar 1938 aus der brennenden Synagoge der Stadt gerettet worden war, in den Bestand des Museums kam.

Dass sich derartige Erwartungen erfüllen könnten, dazu gibt es nach Angaben Vanhoefens berechtigte Hoffnung. Schon früher sei in Arnstadt Vergleichbares geschehen, sagt sie, etwa als es 2018 im Schlossmuseum eine Ausstellung zur Industrialisierung in der Stadt gegeben habe. Damals, so Vanhoefen, sei zum Beispiel ein großes Konvolut von Werbematerial einer ehemaligen Schokoladenfabrik aufgetaucht, das bis zu dieser Ausstellung verborgen in einer privaten Kammer geschlummert habe.

Und zweitens: Sowohl Vanhoefen als auch Schramm hoffen, dass diese Ausstellung dazu beiträgt, bei vielen Menschen in Arnstadt das Interesse an der jüdischen Geschichte der Region und am jüdischen Leben heute wiederzuerwecken - etwa dadurch, dass sie in der Ausstellung auf einen Namen stoßen, der auch für ihre eigene Familiengeschichte eine Rolle spielt. »Denn das ist alles Arnstädter Geschichte, auch wenn viele Arnstädter das nach 1945 vergessen haben«, sagt Schramm.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.