- Berlin
- Gorillas
Alle Räder stehen still
Die abrupte Entlassung eines Fahrers führt zu wilden Streiks beim Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas
»Ich war total überrascht von der Kündigung«, sagt Santiago. Der Argentinier hatte bis Mittwochmittag noch Lebensmittel für den Lieferdienst Gorillas am Standort Checkpoint Charlie in Mitte ausgefahren, als sogenannter Rider - so nennt man die Fahrradkuriere des Unternehmens. Santiago berichtet, er sei nach draußen bestellt worden, wo man ihm seine Entlassung mitgeteilt habe. Es hätte ein negatives Feedback zu seiner Arbeit gegeben. »Genaue Gründe hat man mir nicht genannt, auch wurde ich nicht vorgewarnt«, sagt der gefeuerte Kurier zu »nd«. »Ich bin eigentlich sehr zufrieden, hier zu arbeiten«, betont Santiago, der sich in der sechsmonatigen Probezeit seines - gleichwohl nur befristeten - Arbeitsverhältnisses befand.
Als Kolleg*innen von der Entscheidung am Mittwoch mitbekommen, solidarisieren sie sich. In zwei Lagerhäusern legen Dutzende Beschäftigte die Arbeit nieder und blockieren den Ausgang des Standorts Checkpoint Charlie an der Charlottenstraße für mehrere Stunden. »Wir wollen unseren Kollegen zurück«, erklärt Marcos Vernengo, der ebenfalls an diesem Standort arbeitet, am Mittwochabend. Die Beschäftigten machten sich Sorgen um ihre Jobs, sagt Vernengo zu »nd«: »Morgen könnte es einen anderen treffen.«
Nach und nach treffen immer mehr Unterstützer*innen und weitere streikende Rider ein, zuletzt protestieren etwa 50 Personen vor dem Warenlager. Die überwiegend migrantischen Beschäftigten rufen lautstark: »We want Santiago back!« (Wir wollen Santiago zurückhaben!); ein Fahrer des Lieferdienstes Lieferando spricht ein kämpferisches Grußwort an die Versammelten.
Gespräche mit einem Manager, der versucht, die aufgebrachten Rider zu beschwichtigen, verlaufen zugleich ergebnislos. Die Streikenden beschließen schließlich, dem Unternehmen eine Frist zur Entscheidung zu setzen. Als auch dies ohne Konsequenzen bleibt, brechen einige am Abend per Fahrrad zum Warenlager in der Torstraße auf. Dort angekommen, informieren sie ihre Kolleg*innen und machen sich daran, auch diesen Standort zu blockieren. Bereits ein paar Minuten zuvor seien dort allerdings keine Bestellungen mehr bearbeitet worden - offiziell sollen angeblich technische Gründe angegeben worden sein, wie Gorillas-Mitarbeiter*innen vor Ort berichten.
Die Konflikte um die Arbeitsbedingungen beim Liefer-Start-up schwelen schon seit Längerem. So kam es bereits im Februar zu einem wilden Streik, als Gorillas trotz eines Schneesturmes und eisiger Witterungsbedingungen zunächst unbeeindruckt weiter ausliefern ließ. Einige Beschäftigte haben sich inzwischen zum Gorillas Workers Collective zusammengeschlossen.
In den sozialen Netzwerken berichten sie über schlechte und verspätete Bezahlungen, willkürliche Kündigungen, Rückenprobleme sowie über Versuche seitens des Managements, die Betriebsratsgründung zu torpedieren. So hätten leitende Angestellte versucht, den Versammlungsort zur Wahl des Wahlvorstandes zu betreten. Anschließend beschwerte sich das Unternehmen über Ausschlüsse von der Versammlung.
Florin, der sich im Kollektiv engagiert, aus Furcht vor Repressalien seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will, erläutert im Gespräch mit »nd« seine Hoffnung, dass durch einen Betriebsrat zumindest die Kündigungen aufhören werden. Den Expansionskurs des Unternehmens sieht er kritisch: »Sie wollen den Markt um jeden Preis monopolisieren. Das geschieht auf unserem Rücken.«
In der Torstraße ist die Lage seit der Kündigung Santiagos angespannt. Mitglieder des Managements räumen die Fahrräder zur Seite, mit denen die Streikenden die Tür blockiert haben. Diese reagieren mit Sitzblockaden an Vorder- und Hinterausgang des Warenlagers. Auch die Polizei ist mit mehreren Mannschaftswagen vor Ort. In der Nacht zu Donnerstag beschließt das Management schließlich gegen 22 Uhr, den Standort vorzeitig zu schließen.
Am Donnerstagmorgen kommt es dann erneut zu einer Blockade, diesmal an der Prenzlauer Allee in Pankow, wo Gorillas ein weiteres Warenlager betreibt. Die Protestierenden haben etliche Forderungen im Gepäck. Neben der Wiedereinstellung ihres Kollegen fordern sie, dass die auf das legale Maximum ausgereizte Probezeit massiv verkürzt oder gänzlich abgeschafft wird. Zudem wollen sie durchsetzen, dass es keine Kündigungen mehr ohne Vorwarnung geben soll.
Wieder haben sich einige Dutzend Beschäftigte zum Protest zusammengefunden. Gleichwohl schließen sich längst nicht alle, die hier arbeiten, der Blockade an. Die Protestierenden versuchen noch, Streikbrecher*innen von ihrem Anliegen zu überzeugen. An den beiden verstellten Türen kommt es in der Folge zu Rangeleien. Auch hier stellt das Warenlager nun den Betrieb ein.
Unterstützung für die Streikenden gibt es derweil auch aus der Landespolitik. Die Beschäftigten beim Lieferdienst Gorillas »zeigen gerade, wie Solidarität gemeinsam gelebt wird«, twitterte Vizesenatschef und Kultursenator Klaus Lederer (Linke). »Wenn dieses Unternehmen eine Zukunft in Berlin haben möchte, dann muss es umgehend die Mindeststandards eines fairen Umgangs mit Beschäftigten beachten«, so Lederer weiter.
Auch Linke-Landesvorsitzende Katina Schubert schaltete sich in den Konflikt ein. Auf Twitter äußerte sie ihren »Respekt« für den Kampf der Gorillas Workers: »Ich bin beeindruckt von Ihrem solidarischen Einsatz für Ihren Kollegen und für die Verbesserung Ihrer Arbeitsbedingungen. Eine Sauerei, was Gorillas da abzieht!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.