Wilde Streiks: Geschichte und Gegenwart

Unorganisierte Arbeitsniederlegungen wie zuletzt bei Gorillas sind in der rebellionsarmen Bundesrepublik gar nicht so selten

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 4 Min.

Der wilde Streik wie zuletzt unter Essenslieferant*innen ist wie der Generalstreik eine bei Linken so mythisch umwobene Angelegenheit, wie er beständiges Ereignis in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit ist. Auch in der eher rebellionsarmen BRD gab es eine Vielzahl von Streiks - wilde inklusive. Ein wilder Streik unterscheidet sich von einem regulären nur dadurch, dass kollektiv Arbeit niedergelegt wird, ohne dass dies von einem als Tarifvertragspartei anerkannten Arbeitnehmerverband organisiert wäre. Ein wilder Streik kann allerdings auch nachträglich durch eine Gewerkschaft legalisiert werden, wie ein Bundesarbeitsgericht 1955 entschied.

Die Streiks der frühen 50er Jahre waren äußerst effektiv und wurden meist von starken Gewerkschaften angeführt. Sie waren also legal. Bereits zwei Jahre nach der Gründung von BRD und DDR mussten Bergleute und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet nur eine Streikdrohung aussprechen, um Mitbestimmung in den Aufsichtsräten durchzusetzen und die Adenauer-Regierung in Furcht und Schrecken zu versetzen. Streiks gegen die Begrenzung der Mitbestimmung im Betriebsverfassungsgesetz konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Natürlich war die Arbeitsniederlegung in der DDR rund um den 17. Juni 1953 auch wild und illegal, denn die offiziellen Gewerkschaften und ihre Presseorgane gaben ja den Stein des Anstoßes, die zehnprozentige Normenerhöhung, als in vollem Umfang richtig und gerechtfertig aus.

In den 60er Jahren war »Hochkonjunktur«

Wenige legale Streiks wurden in der Anfangsgeschichte der BRD von einem prozentualen Anstieg von wilden Streiks kompensiert. Der Bremer Historiker Peter Birke nannte die wilden Streiks der späten 50er und frühen 60er Jahre »Hochkonjunkturstreiks«. Sie sollen eine so genannte zweite Lohnrunde etabliert haben, mit der die Beschäftigten übertarifliche Leistungen durchzusetzen versuchten. Bei Vollbeschäftigung und steigenden Gewinnen war dies zumeist von Erfolg gekrönt. Die kurze Rezession von 1967 führte keinesfalls zu einem Abflauen wilder oder spontanen Streiks, da viele Unternehmen versuchten, die lokalen Errungenschaften rückgängig zu machen. Die Leser*in merkt es schon: Wir kommen ins magische Jahr 1968. Da war ohnehin alles wild, also auch der Arbeitskampf. Diese Entwicklung kulminierte in den September-Streiks von 1969, in denen Hunderttausende Arbeiter*innen gigantische Lohnerhöhungen durchsetzen konnten, außertariflich. In den frühen 1970er Jahren kam es zu mehreren Wellen wilder Streiks. Die bekanntesten waren jene bei Ford in Köln oder Pierburg in Neuss. Ende August 1973 formulierte es die »FAZ« sehr prägnant: »Wilde Streiks haben etwas Unheimliches; sie sind unberechenbar, außerhalb der Kontrolle der zur Tarifpolitik berechtigten Instanzen. Daher sind sie von Gewerkschaften wie von Unternehmern gleichermaßen gefürchtet.« Und die Bildzeitung hetzte etwas deutlicher, suggerierte, die wilde Aufmüpfigkeit sei durch »fremde Kräfte« geschürt worden und machte als Rädelsführer »6-8 Kommunisten, die sich getarnt in Monteursmänteln in das kilometerweite Werksgelände eingeschlichen haben«, aus.

Mehr Rebellion durch Migration und APO

Tatsächlich hatten sich türkische Arbeiter bei Ford solidarisch mit Entlassenen gezeigt, während die Mehrheit der deutschen Kollegen Entlassungen und Disziplinarverfahren gegen zu lange Urlaub machende Kollegen zum Teil applaudierend befürwortet hatten. Von »Türkenstreiks« war die Rede - was nur zeigte, dass die Neuzusammensetzung der Betriebe durch Migration und »Gastarbeiter« der Rebellionsbereitschaft zu Gute kam. Nicht ganz unwesentlich waren sicherlich auch einige APO-Aktivist*innen, die sich in Betriebsinterventionismus versuchten, mit ihrer Form des militanten Aktivismus ganz hilfreich, auch wenn ihre Suche nach dem revolutionären Subjekt vergeblich blieb.

Wilde Streiks aus den letzten Dekaden gab es zum Teil bei Angestellten mit großer Marktmacht, also hoher Qualifikation, oder in Betrieben, in denen eine gewerkschaftliche Vertretung als nicht befugt angesehen wurde, Tarifverträge abzuschließen, wie die Fluglotsengewerkschaft UFO durch Lufthansa. Wilde Streiks gab es auch in Form von Betriebsblockaden bei drohenden Betriebsschließung oder der Produktionsverlagerung, so geschehen bei DaimlerChrysler, bei Siemens oder bei Opel in Bochum. Corona zwang teilweise Beschäftigte, zum Mittel des wilden Streiks zu greifen, um sich zu schützen, wie die Seite solidarischgegencorona.weltpress.com dokumentiert. So legten letztes Jahr im März einige Schichtarbeiter*innen die Arbeit im Kunst- und Schaumstoffhersteller Greiner Perfoam in Linz nieder und hielten trotz Versammlungsverbot eine Kundgebung vor dem Unternehmen statt. Sie wollten keine gesundheitlichen Risiken in Kauf nimmt. In kaum verrechtlichten und hoch prekären Arbeitsverhältnissen taucht der wilde Streik ebenfalls auf, wie bei den Fahrradkurier*innen, die eine junge, flexible, hoch kommunikative und international zusammengesetzte Arbeiter*innenklasse unter Dienstbotenverhältnissen darstellt.

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