Genfer Gipfel: Wenig erwartet, viel erreicht

Warum das Biden-Putin-Treffen aus russischer Sicht ein überaschender Erfolg ist

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie bezweifeln seine geistige Zurechnungsfähigkeit, berichten immer wieder über sein Alter und spotten über jeden noch so kleinen Fehltritt: Joe Biden ist das beliebteste Ziel für die Sticheleien russischer Staatsmedien. Kaum eine Woche vergeht ohne Beiträge über die neuesten angeblichen Patzer des US-amerikanischen Präsidenten.

Umso bemerkenswerter war daher die Kehrtwende, die Wladimir Putin am Donnerstag dieser Woche vollzog. »Ich möchte sagen, dass dieses Bild, das von unserer - und sogar der US-amerikanischen - Presse gezeichnet wird, nicht der Wirklichkeit entspricht«, erklärte der russische Präsident einen Tag nach dem Gipfeltreffen in Genf. Tatsächlich sei sein US-amerikanischer Amtskollege ein ernst zu nehmender Politprofi. Biden habe bei den Gesprächen gut im Stoff gestanden, wisse was er wolle, und sei ein geschickter Verhandlungspartner.

Die unerwartet freundlichen Worte des Kreml-Chefs sind ein guter Gradmesser für die russische Stimmung nach den Gipfelgesprächen am Mittwoch. Diese sind aus Moskauer Sicht wesentlich erfolgreicher verlaufen als vorab erwartet.

Übereinstimmend loben russische Medien die Einigung auf eine Rückkehr der beiden abgezogenen Botschafter in ihre Gastländer und unterstreichen die Wichtigkeit der anvisierten Gespräche über die bilaterale Rüstungskontrolle. Auch die angekündigte Verhandlungsrunde zum umstrittenen Thema der Cybersicherheit wird positiv bewertet. Große Beachtung findet unter Experten zudem das Kommuniqué zur strategischen Stabilität.

In diesem zitieren beide Seiten wörtlich die von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1985 in Genf vereinbarte Formel, wonach »ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals ausgefochten werden darf«. Dies sei ein erheblicher Erfolg, erklärte Vizeaußenminister Sergej Rabkow in der Tageszeitung »Kommersant«. »Nur so können sich verantwortungsvolle Atommächte in der modernen Welt verhalten.« Die Zeit der Spielereien und Zweideutigkeiten sei vorbei.

Zwar stimmten die meisten Experten und Kommentatoren in ihrer Einschätzung grundsätzlich überein. Bei der Betrachtung einzelner Aspekte des Gipfeltreffens zeigen sich allerdings interessante Nuancen. Konstantin Kossatschow, der Vizechef des russischen Föderationsrates, erklärt die Annäherung beider Seiten beispielsweise ausschließlich mit der »nüchternen und ergebnisoffenen« Politik seines Landes. Russland habe sich bei den Verhandlungen paradoxerweise in der Rolle befunden, die der Westen im Kalten Krieg gehabt habe, als er mit der ideologisch aufgeladenen sowjetischen Führung verhandelte, schreibt der Politiker in der »Iswestija«. Wie der Westen damals habe Moskau trotz »propagandistischem Pathos« und einer »äußerst ideologisierten Außenpolitik« der US-Amerikaner auf pragmatische Vereinbarungen gedrungen.

Timofej Bordatschow stellt die Aufnahme eines von Ideologie befreiten Dialoges als wichtigstes Gipfelergebnis heraus. Es bestehe nun die Chance zu einem von praktischen Fragen gelenkten Verhältnis, in dem beide Seiten eigene Interessen und Werte verfolgen können, schreibt der Programmdirektor der kremlnahen Denkfabrik Waldai-Club in »Wsgljad«. »Beide Seiten machen, was sie für nötig halten. Aber wenn es gewisse Fragen zu erörtern gibt, tun sie auch dies.«

Fjodor Lukjanow sieht die Beziehungen beider Länder nach dem Gipfel an einem möglichen Wendepunkt. Eine ungesunde und törichte Periode gehe vorbei, schreibt der Chefredakteur der russischen Fachzeitschrift »Russia in Global Affairs«. Nun sei Zeit für eine nüchterne Standortbestimmung. Die Voraussetzungen seien geschaffen.

Auch zurückhaltendere Einschätzungen waren zu hören. Laut Andrej Kortunow, Direktor des russischen Rates für internationale Angelegenheiten, sendet der Gipfel in erster Linie ein Signal an Moskaus Militärs und Diplomaten, unverzüglich Gespräche zur Rüstungskontrolle vorzubereiten. Politikprofessor Sergej Radtschenko von der Universität Cardiff meint, Putin habe das Treffen nur genutzt, um sich vor dem einheimischen Publikum als starker Politiker zu inszenieren, der auf internationalem Parkett über strategische Fragen verhandeln kann. »In diesem Sinne hat der Gipfel für Putin funktioniert«, erklärt er gegenüber der Onlineportal »Meduza.« Die sonstigen Ergebnisse seien von geringer Bedeutung.

Trotz aller Unterschiede: Grundlegende Veränderungen erwartet in Russland niemand. Das Treffen am Genfer See habe nur die Grundlagen für eine mögliche Verständigung geschaffen, so der Tenor. Ob den Worten auch Taten folgen, müsse sich erst zeigen.

Dass ein Zurückschrauben der Erwartungen angebracht ist, machte Putins Pressekonferenz nach dem Gipfel deutlich. Brüsk wies der russische Staatschef kritische Fragen nach dem Zustand der russischen Demokratie zurück und verteidigte das harte Durchgreifen gegen Oppositionelle mit Verweisen auf US-amerikanische Gegenbeispiele. Besonders allergisch reagierte der Kreml-Chef auf eine Frage nach Alexej Nawalny. Dieser habe gegen das Gesetz verstoßen und sei zunächst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Dann aber habe er »bewusst« gegen die damit verbundenen Meldeauflagen verstoßen, als er »zur Behandlung ins Ausland reiste«. Der Oppositionelle lag zu diesem Zeitpunkt allerdings im Koma. Zudem hatte Putin früher erklärt, selbst der Ausreise Nawalnys zugestimmt zu haben. Putins Reaktion zeigt klar die Grenzen der Annäherung von Genf auf: Ausländische Kritik an der russischen Innenpolitik ist für den Kreml absolut tabu.

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