Wie ich mal mit Pussy Riot quatschte

Zirkus Europa

Reporterglück, gibt’s sowas? Zur rechten Zeit am rechten Ort sein? Zufällig die richtigen Menschen treffen, vom schieren Glück geleitet zu den spannenden Dingen, die so passieren, hier und dort? Passiert das wirklich, fragt sich nicht nur der Leser manchmal sondern auch, wer den Arbeitsalltag der Auslandsreporter kennt. Die nämlich arbeiten oft mit sogenannten Fixern zusammen, also Menschen, die dem Journalisten für Geld die Story »fixen«, also klarmachen. Ein Fotograf in Brasilien hat mir mal erzählt, wie ein Kollege eine Favela-Reportage recherchierte. Kurzer Anruf bei einem Fixer: Bitte eine junge Favela-Mutter, am besten mehrere Kinder, bitte Witwe, Vater möglichst von der Polizei getötet, wahlweise auch von rivalisierenden Gangs! Zwei Tage später hatte der Kollege seine Protagonistin und bald erschien seine spannende Story.

Ich muss daran denken, als ich hier in St. Petersburg von der Bayern-Arena lese. Für das letzte Gruppenspiel gegen die Ungarn soll das Münchener Stadion in Regenbogenfarben erstrahlen, ein Hurra auf LGBTQI+ und ein deutliches Stänkern in Richtung von Ungarns plattnationalistischem Regierungsschef Viktor Orban, dem das heimische Parlament in seinem populistischen Treiben Rückendeckung mit einem Gesetz gab: Im Sexualkundeunterricht an ungarischen Schulen werden die Lehrer um die Themen Homosexualität und Transsexualität künftig ein Bogen machen müssen.

Noch sind es nur Forderungen von Münchener Lokalpolitikern, noch ist nichts entschieden, aber für die Uefa könnte es knifflig werden, sollte die Debatte an Fahrt aufnehmen. Schließlich will man es sich nicht mit Ungarn verderben, das ja mit Budapest noch als Notnagel für die letzte Turnierwoche zur Verfügung steht - London wackelt wegen der Ausbreitung der Corona-Deltavariante. Allerdings kann die Uefa wohl nicht ganz zu Unrecht darauf pochen, sich hier besser rauszuhalten. Welche Legitimation hätte schließlich ein kontinentaler Fußballverband für eine Bewertung von Gesetzen, die gewählte Parlamente in EU-Staaten beschließen?

Hach, die Welt ist ihrer Dialektik wirklich zum Haareraufen! Womit wir wieder bei Russland und dem Reporterglück oder auch -unglück wären, je nachdem, wie man es betrachtet. Rückblende zur WM 2018 in Russland, das seinerzeit sein diskriminierendes Gesetz gegen »homosexuelle Propaganda« herausgebracht hatte - quasi ein Vorläufer für das Orban-Gesetz von 2021. Ich war für »nd« bei der WM unterwegs und immer auch auf der Suche nach widerständigen Menschen in Russland: Einen Fixer zum Arrangieren hatte ich nicht, ich war auf meine eigenen Kontakte angewiesen.

An einem sehr späten Abend im Juli, es war nach einem Spiel in St. Petersburg, ging ich mit einem Kollegen noch auf ein Feierabendbier in eine ziemlich lässige Bar, die sich im Erdgeschoss unseres kleinen Hotels befand. Wir aßen noch eine Mitternachtspizza und waren fast die letzten Gäste außer einer jungen Frau mit pinkfarbenen Haaren. Die war ein bisschen laut und nörgelte den Barkeeper wegen der Musik an, schien aber irgendwie zum Hause zu gehören, denn alles war ganz freundschaftlich.

Wir kamen ins Gespräch mit ihr und quatschten eine Weile über dies und das, über Berlin (jeder liebt Berlin!), die WM (lieben auch die meisten), die Fans und so weiter. Sie erzählte, sie arbeite im Management eines schwul-lesbischen Filmfestivals. Es war nett, um zwei sagten wir Tschüss.

Eine Woche später sah ich die junge Frau wieder, in Moskau, genauer gesagt, im Lushniki-Stadion, oder noch genauer, auf dem Monitor an meinem Presseplatz. Ihr Gesicht und die pinken Haare erkannte ich sofort. Unsere Trinkkumpanin aus Petersburg gehörte zu jener Gruppe Flitzer, die beim WM-Finale in Polizeiuniform den Rasen stürmte: Pussy-Riot-Aktivistinnen, von denen eine sogar mit Frankreichs Superstar Kylian Mbappé abklatschte. Ich war baff: Was für eine nette Story war mir entgangen neulich! Da präsentiert einem der Zufall eine echte Widerständlerin, und man bemerkt es schlicht und einfach nicht.

Vor drei Tagen war ich jetzt noch einmal in jener Bar in der Ulitsa Majakowskaja, Ehrensache. Doch wie es so ist mit dem Reporterglück: Es ereilt einen nicht alle Tage. Der Kellner wusste jedenfalls nicht, was ich von ihm wollte. »Pussy Riot? Gibt’s hier nicht.«

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