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»Wir brauchen einen Superlockdown«
Wirtschaftswissenschaftler Helge Peukert über Irrwege der Klimapolitik und fundamentalökologische Alternativen
Herr Peukert, nach dem Karlsruher Urteil zum Klimaschutzgesetz hat die Bundesregierung in Rekordzeit ein neues Klimaschutzgesetz vorgelegt. Was halten Sie davon?
Nicht genug, aber die Schraube wird angezogen. Schon witzig: Vor dem Beschluss des Verfassungsgerichts hielten Regierung und Parlamentsmehrheit die Klagen für unbegründet, hinterher waren alle begeistert. Die neuen Zielformulierungen sind eine Sache, die Umsetzung eine andere. Jetzt beginnt die Balgerei, wen man wie belasten kann, und die Primärstrategie der Preiserhöhungen ist natürlich unsozial. Ich frage mich generell, ob man die doch deftigen Ziele im gegebenen Systemrahmen überhaupt hinbekommen kann.
Beschäftigt man sich mit Details der Klimapolitik, also mit Emissionshandelssystemen, Weltklimarat-Berichten und CO2-Kompensationen, wird es schnell kompliziert. Helge Peukerts neues Buch »Klimaneutralität jetzt! Politiken der Klimaneutralität auf dem Prüfstand« (Metropolis-Verlag, 514 S., 19,80) gibt nicht nur einen guten Überblick, sondern liefert auch eine Kritik an der Klimapolitik aus fundamentalökologischer Perspektive. Peukert ist Professor für »Plurale Ökonomik« an der Uni Siegen. Mit ihm sprach Guido Speckmann.
Sie zeichnen in Ihrem neuen Buch ein düsteres Bild der ökologischen Ist-Situation. Wie sieht diese aus?
Wenn wir die Ergebnisse des IPCC-Berichtes zur 1,5-Grad-Erderwärmung ernst nehmen, dann ist nach meiner Rechnung das weltweite Restbudget an Treibhausgasemissionen schon jetzt aufgebraucht. In Deutschland sind wir bei zwei Grad plus, weltweit sind über Land gerechnet die 1,5 Grad bereits überschritten. In vielen Bereichen ist es bereits wirklich ernst: Dürren, Wasserknappheit, das Sterben der Insekten, das Schmelzen von Gletschern sowie das Auftauen des Permafrostes etc. Forschungsinstitute sagen uns, dass Kipppunkte nahe sind. Wir sind mitten drin im Ökozid.
Aber es tut sich doch jetzt eine Menge. Fast täglich bekennt sich ein Unternehmen oder ein Staat zur Klimaneutralität. Von dem Begriff halten Sie aber wenig.
Der Begriff hat selbst in offiziellen Dokumenten unterschiedliche Bedeutungen. Der Ausgangspunkt meines Buches war die Frage, wie geht das eigentlich: fast von heute auf morgen klimaneutral werden, ohne dass sich am Geschäftsmodell von Unternehmen oder an den Aktivitäten von zum Beispiel Bundeseinrichtungen Wesentliches ändert. Neben zu begrüßenden tatsächlichen Emissionsminderungen kann man sich aber über Kompensationsprojekte, meist in fernen Ländern, extrem preisgünstig freikaufen. Auch bei anspruchsvollen Projekten mit Goldstandard kostet eine Gutschrift für eine emittierte Tonne oft nur rund fünf Euro. Die Beteiligten vereinbaren fast immer Stillschweigen über diese Discountofferten.
Was ist falsch daran, wenn ich mit Geldbeträgen zur Aufforstung von Wäldern beitrage, die CO2 binden?Dann sind die Wälder ja zunächst einmal abgeholzt worden, in Zukunft zum Beispiel sicher auch verstärkt dank eines EU-Mercosur-Abkommens mit Ökokriminellen wie dem brasilianischen Präsidenten. Auch werden viele Wälder durch den Klimawandel langsam von Senken zu Quellen, das heißt sie geben mehr CO2 ab als sie binden. Oft werden durch solche Projekte auch die Gewohnheitsrechte indigener Gruppen nachdrücklich eingeschränkt. Die zu kompensierenden Treibhausgasemissionen sind definitiv und meist für lange Zeit real in der Atmosphäre, Wälder können abbrennen, dann doch abgeholzt werden, oder die Aufforstung funktioniert nicht, weil junge Bäume wegen Dürren eingehen. Auch dauert es Jahrzehnte, bis Bäume wirklich erheblich Emissionen absorbieren. Schließlich werden bei solchen Projekten oft völlig überzogene Minderungsleistungen angesetzt. Das kaum vermeidbare Problem ist: Ihre nationale Klimabilanz durch solche Projekte aufhübschende Regierungen, Zertifizierer, Projektmanager, Verkäufer und Unternehmen sowie andere Institutionen als Käufer der Ablassgutschriften sind hier in einer Interessenallianz zulasten wirklich nachhaltiger Projekte. Skepsis ist auch etwa gegenüber Windkraftprojekten angezeigt, denn man kann kaum belegen, dass in Indien bisher fossil gewonnener Strom aus den Netzen genommen wird, weil sich ein paar Windräder mehr drehen - das Problem der Zusätzlichkeit.
Wenn Sie von Klimaneutralität nicht viel halten, wieso haben Sie Ihr Buch dann »Klimaneutralität jetzt!« genannt?
Berechtigte Frage. Der Begriff »Netto- oder Brutto-Null« zum Beispiel ist der Öffentlichkeit weniger bekannt und kaum verständlich, daher der Allerweltstitel zum Anbeißen. Das »jetzt« soll im Unterschied zu den Vertröstern auf 2030 oder 2045 aussagen: Wir müssten unseren Ressourcenverbrauch und die Emissionen hier und jetzt um rund 80 Prozent senken, eine Art Superlockdown. Jedes Jahr werden es aber bisher zwischen 30 und 40 Gigatonnen mehr.
Auch mit dem Emissionshandelssystem gehen Sie ins Gericht. Warum?
Nur 57 Prozent der Zertifikate werden versteigert, der Rest wird kostenlos an die exportorientierte Industrie verteilt, die in den letzten Jahren dementsprechend nur geringe Treibhausgasminderungen vorzuweisen hat. Auch ist die festgelegte Kappungsmenge für 2020/2021 enttäuschend, da die Emissionen 2019, vor Corona, bereits unter dieser Menge lagen. Die negativen Umweltauswirkungen pro Tonne CO2 liegen laut Umweltbundesamt bei knapp unter 200 Euro. Da sind auch die gegenwärtigen 50 Euro/Tonne viel zu niedrig. Schlüge man 200 Euro auf die Produkte drauf, ginge die Wettbewerbsfähigkeit flöten oder man müsste sich vom »freien« Welthandel und den WTO-Regelungen verabschieden und hohe Importzölle einführen. Widersprüchlich ist natürlich auch der gleichzeitige Ausbau von Pipelines wie Nord Stream 2 und riesiger Reservoirs in Norddeutschland für fossile (Fracking-)Importe aus den USA.Also prinzipiell ein Irrweg?
Zumindest im Rahmen der momentanen Welthandelsordnung kaum mit der notwendigen Stringenz umsetzbar. Und überhaupt ein problematischer Umweg, den wir uns auch unabhängig von der Kappungsgrenze und der Preisentwicklung der Zertifikate eigentlich nicht mehr leisten können. Eine Begrenzung durch eine Verteuerung auf der Nachfrageseite wie schon beim Kyoto-Protokoll ist wohl prinzipiell der falsche Ansatz. Der überwiegende Teil des noch förderbaren Öls, Gases und der Kohle muss im Boden bleiben, darum muss es gehen. Einmal gefördert, finden sich immer Abnehmer. Sinkt die Ölnachfrage in Europa dank Emissionshandel, freuen sich Abnehmer anderswo über die gesunkenen Ölpreise. Das Wischiwaschi des Pariser Abkommens macht’s möglich.Man müsste mit den nicht allzu vielen, aber natürlich hoch problematischen Produzentenstaaten ein Mega-Opec-Kartell aufziehen und sie auch über finanzielle Anreize und gestreckte Abnahmegarantien dazu bewegen, hierbei mitzumachen. Sollten die regenerativen Energien sich nicht nur in der EU rasant durchsetzen, werden die Förderstaaten versuchen, zu Schleuderpreisen alle fossilen Brennstoffe so schnell wie möglich zu verkaufen. Das liefe auf das Gegenteil des von der EU gut gemeinten Erwünschten hinaus.
Ein solches Mega-Opec-Kartell scheint mir nicht in Sicht, und die Energienachfrage gerade in sich wirtschaftlich entwickelnden Staaten steigt rasant. Ist der Kampf gegen die Erderwärmung schon verloren?
Die Prognose trifft leider zu. Jedes Zehntelgrad zählt aber natürlich, deshalb gibt es kein »zu spät«. Tatsächlich wird 2040 zwei Drittel der steigenden Energienachfrage aus pazifischen und asiatischen Ländern kommen. Nicht die börsennotierten Konzerne des Westens bestimmen den Ölmarkt, sondern Staatskonzerne, denen die Klimafrage eher egal ist. Das erschwert ein Megakartell. Was die EU in Sachen Klimaschutz macht, wird da jedenfalls gegenwärtig im negativen Sinne »klimaneutralisiert«. Man dürfte zumindest die Produkte nicht mehr kaufen, die mit billigem Öl, Gas und Kohle dieser Staatskonzerne hergestellt werden.
Was müsste getan weiter werden, um die Erderwärmung auf ein erträgliches Maß zu begrenzen?
Es bräuchte ein Notfallprogramm, hier nur ein einziger Punkt: die sofortige Abschaltung der 1500 größten Kohlekraftwerke der Welt.
Sie schreiben, dass sich die Umweltkrise einem Links-Rechts-Lagerdenken entziehe. An anderer Stelle jedoch, dass es einer gewissen wirtschaftlichen Gesamtrahmenplanung und Verstaatlichung und Vergesellschaftung bedürfe. Klingt eher nach einer linken Wirtschaftspolitik, zumindest aber mit liberalen Grundsätzen unvereinbar.
Stimmt. Kreative Innovationen, ich meine hier nicht die kontraproduktive, noch lange zwangsläufig fossil bestromte E-Mobilität, und Marktprozesse können und sollen eine Rolle spielen. Aber es ist 5 nach 12. Deshalb brauchen wir jetzt gesellschaftliche Entscheidungen, welche Produktion und welcher Konsum noch zulässig sind und wo man die Bude sobald wie möglich dichtmachen muss. Eine solche Aufgabe widerspricht tatsächlich der Philosophie einer individualistischen Konsumdemokratie. Man kann nicht behaupten, dass wir mit Verstaatlichungen allerbeste Erfahrungen gemacht haben. Aber eine gewisse zentrale Gesamtplanung ist jetzt unumgänglich. Daneben kann es gerne viele anarchistisch organisierte Ökodörfer geben, in denen junge Leute ein gutes Leben jenseits des Kapitalismus vorleben.
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