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Turbulenzen und »unmögliche Preise«
Die jüngsten Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten sind spektakulär
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist alarmiert: Steil ansteigende Preise und Lieferengpässe bei strategisch wichtigen Rohstoffen bedrohten den Wirtschaftsaufschwung, EU und Bundesregierung müssten handeln.
Die jüngsten Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten sind in der Tat spektakulär. Der Index der Weltrohstoffpreise (Dollarbasis, 2015=100) erreichte im Juni 2021 einen Wert von 140 und lag damit fast dreimal so hoch wie im Frühjahr 2020, als die Rohstoffpreise coronabedingt eingebrochen waren. Strategisch wichtige Metalle wie Kupfer verzeichnen Allzeithochs. Besonders betroffen sind Industrierohstoffe, aber auch Nahrungsmittelpreise legen kräftig zu. Die angegebenen Gründe sind vielfältig: Starke Nachfrage aus China, Transportprobleme, Produktionsstockungen sind sicherlich Ursachen für Knappheiten und Versorgungsprobleme bei einzelnen Produkten. Auch treiben Digitalisierung und Elektrifizierung die Nachfrage nach bestimmten Metallen. Warum aber steigen gleichzeitig auch Öl- Gas- und Kohlepreise? Die Tonne Kohle notierte im Juni 2020 mit knapp 45 US-Dollar, ein Jahr später waren es 110 US-Dollar. Der alle Rohstoffarten treffende Preisboom kann mit physischen Knappheiten allein kaum erklärt werden.
Tatsächlich ist die Situation an den Finanzmärkten ein zentraler Faktor. Bei Zinsen nahe Null werden verzweifelt Anlagemöglichkeiten gesucht. Zwar bestimmen Finanzgeschäfte nicht langfristig das Preisniveau an den Rohstoffmärkten. Beim expandierenden Handel mit Rohstoffderivaten geht es um Wertpapiergeschäfte, die die physische Nachfrage nicht direkt berühren. Die Investoren an den Warenbörsen interessieren sich nur noch selten für die gehandelten Produkte. Eine wachsende Rolle spielen Indexfonds wie der bekannte Bloomberg Commodity Index, der die Preise für 20 ganz unterschiedliche Rohstoffe abbildet. Aber auch wenn die Investoren mit den Rohstoffen selbst nichts im Sinn haben, wird der physische Handel indirekt beeinflusst. Was bei solchen Geschäften passieren kann zeigte sich eindringlich im Mai letzten Jahres, als die Rohölpreise kurzzeitig in Minus drehten: Erstmalig in der Geschichte der Rohstoffwirtschaft sank der Preis für ein Fass Rohöl der Sorte WTI auf minus 40 US-Dollar. Finanzinvestoren hatten in Hoffnung auf steigende Preise Ölkontrakte gekauft, die im Mai fällig wurden. Als sich der Auslieferungstermin näherte fanden sie bei sinkenden Ölpreisen keine Käufer für ihre Wertpapiere, sie hätten vertragsgemäß das Öl in physischer Form annehmen müssen. Um das zu vermeiden, mussten sie die Kontrakte verkaufen, was nur zu negativen Preisen möglich war.
Der Zusammenhang zwischen physischen Rohstoffpreisen und den Preisen für entsprechende Wertpapiere ist den professionellen Beobachtern der Finanzmärkte durchaus bekannt. So leitet die Berenberg-Bank ihren Kapitalmarktausblick für das zweite Quartal 2021 mit dem Satz ein: »Energierohstoffe, Industriemetalle und Aktien hatten einen guten Jahresstart.« Vor allem Energierohstoffe, so der Ausblick, seien »die beste Anlageklasse seit Jahresbeginn.« Natürlich ist die physische Angebots- und Nachfragekonstellation wichtig – aber nur für die Richtung, in die spekuliert wird. In Knappheitskonstellationen wird auf steigende Preise gesetzt, was den Preisauftrieb beschleunigt. Dreht sich der Markt, kann es – wie das Beispiel der negativen Ölpreise zeigt – auch wieder in die umgekehrte Richtung gehen. Die Finanzmärkte verstärken die durch die physischen Verhältnisse bestimmten Grundtendenzen, vergrößern die Preisvolatilität an den Rohstoffmärkten, was Anbieter wie Nachfrager der physischen Produkte verunsichert und sie zu teuren Absicherungsgeschäften zwingt. Nach der Finanzmarktkrise 2008 gab es zahlreiche Initiativen, die den Handel mit Rohstoffderivaten stärker regulieren wollten: Sie waren entweder unwirksam oder wurden verwässert. Es ist höchste Zeit, diese Debatten wieder aufzunehmen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, auch wenn der BDI bei seiner Initiative die Rolle der Finanzmärkte ganz sicher nicht im Auge hatte.
Jörg Goldberg ist Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.
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