Kampf um Leben und Existenz

In Tunesien ist die Coronalage dramatisch. Für viele Menschen wäre auch ein harter Lockdown eine Katastrophe

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 6 Min.

Es lag nicht an der fehlenden Spannung während des EM-Spiels England gegen Deutschland, dass in Tunis viele Fußballfans während der Live-Übertragung auf ihre Handys schauten. Die sportbegeisterten Gäste in den gut gefüllten Cafés warteten auf eine der wichtigsten politischen Entscheidungen der letzten Jahre. Zeitgleich mit dem Spiel trafen sich Regierungschef Hichem Mechichi und seine Berater mit der Nationalen Gesundheitskommission. Diskutiert wurde die Ausrufung eines harten Lockdowns, so wie im letzten Frühjahr, als die gerade erst gewählte Vorgängerregierung Tunesien vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Das Touristenziel war in der Folge eines von weltweit fünf Ländern, die das Auswärtige Amt als sicher einstufte. Jetzt aber liegt Tunesien im Verhältnis zur Einwohnerzahl auf dem dritten Rang in Afrika und im weltweiten Vergleich auf Rang zehn. Die Ärztevereinigung forderte vor dem Treffen am Dienstag, das öffentliche Leben für sechs Wochen herunterzufahren.

Als die deutschen Spieler mit hängenden Köpfen das Stadium verlassen, entbrennt im gut besuchten Café Richelieu im Stadtteil Lafayette eine heftige Diskussion. »Es geht hier um Geld oder Leben«, sagt Mohamed Hamed, ein Taxifahrer aus Ariana. Der Vorort ist von der Infektionswelle in dem Land mit über elf Millionen Einwohnern besonders stark betroffen. »Viele Familien leiden noch an den Einbußen durch den strikten mehrwöchigen Lockdown aus dem letzten Jahr«, sagt der 29-Jährige, der wie viele seiner Kollegen wieder eine Stoffmaske trägt. »Auch wenn die Ärzte einen landesweiten Lockdown fordern - wenn die Regierung so etwas verkündet, sind Hunderttausende Familien pleite.«

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Einer der Kollegen von Mohamed Hamed schüttelt den Kopf, aber ist nicht zum Streiten aufgelegt. Den Vortag hatte Taieb Barhoumi an der Notaufnahme des staatlichen Krankenhauses Mongi Slim verbracht, einem der größten der Hauptstadt. Während der letzten größeren Infektionswelle im Herbst waren die Kliniken immer in der Lage gewesen, Menschen mit akuter Atemnot aufzunehmen, trotz der offiziell nur 240 Intensivbetten im Land. Viele Menschen hatten ihre Erkrankung einfach zu Hause auskuriert. »Die neue Variante des Virus führt direkter zu Atemnot«, berichtet Taieb, dessen Onkel nun im Mongi-Slim-Krankenhaus mit einem Sauerstoffgerät beatmet wird. »Wir hatten Glück, er war schon blau angelaufen, ich dachte, es geht zu Ende mit ihm. Dann hat sich ein Arzt erbarmt und ihn als Patienten aufgenommen. Wohl auch, weil er bei den anderen auf Beatmung wartenden Covid-Erkrankten eine geringere Überlebenschance sah.« 18 Fälle der besonders ansteckenden Delta-Variante wurden in Tunesien registriert, wobei aber kaum sequenziert wird. Für die hohen Infektionszahlen, die veränderten Symptome und Krankheitsverläufe machen Fachleute wie Laien jedoch die neue Variante verantwortlich.

Im Café Richelieu sind plötzlich erleichterte Aufschreie zu hören. Regierungschef Mechichi hat gerade verkündet, dass ein erneuter Lockdown aus »sozio-ökonomischen Gründen« nicht in Frage kommt. Nach dem letzten viertägigen Herunterfahren des öffentlichen Lebens im Januar waren Hunderttausende arbeitslose Jugendliche auf die Straßen gegangen und hatten sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert.

Wie dramatisch die Coronalage im Land ist, zeigte sich erst nach Mechichis Regierungserklärung, in der er immerhin eine Vorverlegung der Polizeistunde von 22 auf 20 Uhr verkündete und den Landkreisen die Entscheidung übertrug, weitere Maßnahmen zu treffen. Bis zum Donnerstag erließen die Gouverneure von Sousse, Kairouan, Tabarka, Zarzis und anderen Städten vierzehntägige Lockdowns und die Schließung sämtlicher Restaurants und Läden. Ab Freitag sind auch Reisen nach und von Tunis untersagt, gastronomische Betriebe sollen um 16 Uhr schließen.

Gegen die lokalen Maßnahmen werden wie immer viele Menschen verstoßen und über Seitenstraßen die Kontrollpunkte der Polizei umfahren, sind sich viele im Café Richelieu einig. Doch erstmals ist die Bedrohung echt, wendet Taieb Barhoumi ein.

Über 2000 Menschen sind alleine im Juni in Tunesien an Covid gestorben, jeder dritte Test fällt positiv aus, melden die Gesundheitsbehörden. Nach offiziellen Zahlen hat das Land derzeit in Afrika die dritthöchste Covid-Infektionsrate und nach absoluten Zahlen die meisten Todesfälle. Doch trotz des vergleichsweise gut ausgebauten Gesundheitswesens haben die Zahlen nur bedingt Aussagekraft. Die umgerechnet 42 Euro für einen PCR-Test investieren meist nur Reisende und diejenigen, die bereits Symptome einer Erkrankung spüren und das vor den Arbeitskollegen nicht verheimlichen können. Wer kann, bleibt ungetestet für zehn Tage zu Hause und kuriert Fieber und Gliederschmerzen aus, sagt Taieb Barhoumi, der selber im Oktober Corona-Symptome hatte - und weiterarbeitete. »Meine Töchter wollen studieren, meine Frau und ich versorgen unsere Eltern, der Ausfall meines spärlichen Lohns hätte eine ganze Großfamilie ans Hungertuch gebracht.« Sein Arzt hatte ihm Medikamente gegen Grippe verschrieben und sich zehn Tage später nach seiner Verfassung erkundigt.

Während das Leben in der Metropole Tunis mit vollen Strandbars und Supermärkten weitergeht, herrscht nur 1,5 Autostunden entfernt, in der Kleinstadt Beja, Krieg. Mit solch drastischen Begriffen beschreiben zumindest die Ärzte und lokale Medien die Situation vor und in den Krankenhäusern der für ihre grüne Hügellandschaft bekannten Provinz.

Die Ärztin Omaima El Hassani berichtet vom Mangel an Schutzkleidung für das Krankenhauspersonal, vom Mangel an Betten und von Patienten, die über einen Tag auf Sauerstoffversorgung warten müssen. Mehre Menschen starben am vergangen Wochenende auf dem Parkplatz vor der Klinik, berichtet ein dort tätiger Pfleger dem »nd«. »Wir stehen vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, uns fehlt das Personal, weil sich viele bei der Behandlung der Patienten selber angesteckt haben.« Der 43-Jährige möchte aus Angst vor seinen Vorgesetzten lieber anonym bleiben. Dabei sprechen die über soziale Medien verbreiteten Filmaufnahmen von Menschen auf Tragen oder Betten vor dem Gebäude für sich. In Kairouan, einer Provinzstadt weiter südlich, starben am vergangenen Wochenende fünf Kinder an schweren Covid-Infektionen.

Gesundheitsexperten glauben, dass die Überlastung der Krankenhäuser durch die rasant steigenden Infektionen nur über eine rasche Durchimpfung der Bevölkerung gestoppt werden kann. Laut dpa wurden bislang knapp 1,8 Millionen geimpft, gut 500 000 von ihnen haben den vollen Impfschutz erhalten. Pfleger und Ärzte nehmen nur zögerlich an der »Evax« genannten Impfkampagne teil, die durch einfaches Anmelden per Internet sogar in Tunesien lebenden Ausländern offensteht. »Das medizinische Personal hat mit dem Glauben an die Regierung auch den Glauben an einen rationalen Ausweg aus der Krise verloren«, sagt die Ärztin Fatma ben Cherif.

Dass zwar volle Fußballstadien wie zuletzt beim Pokalendspiel und die Einreise von Touristen erlaubt sind, aber die Bürger zur Sperrstunde aus den Freiluftbereichen der Cafés vertrieben werden, trifft unter den Taxifahrern auf wenig Verständnis. Auch der stets staatstragend auftretende Präsident Kais Saied schweige bisher, beschwert sich einer am Tisch.

Ein symbolhaftes Bild für die Gleichgültigkeit der politischen Elite inmitten der größten Krise nach der Unabhängigkeit Tunesiens kam noch am Mittwoch aus dem Parlament. Bei einer hitzigen Debatte der Abgeordneten über Gesetzesvorlagen verließ plötzlich ein Vertreter der islamistischen Splitterpartei Karama seinen Platz und ohrfeigte die Oppositionsführerin Abir Moussi heftig. Die meisten Abgeordneten nahmen die Attacke ohne Kommentar zur Kenntnis. Erst am Donnerstag forderten Vertreter der Zivilgesellschaft die Staatsanwaltschaft auf, den Angreifer strafrechtlich zu verfolgen.

»Auch auf den Straßen liegen die Nerven plötzlich blank, eine Eskalation in so kurzer Zeit, fast symbolisch für die leichte Übertragbarkeit der Delta-Variante«, sagt Taieb Barhoumi und geht zu seinem Taxi. »Die Bruchlinien innerhalb der Gesellschaft treten immer offener zutage«, warnt er. »Aber niemand hat Zeit, eine bessere Bekämpfung des Virus einzufordern. Alle kämpfen wie ich um die wirtschaftliche Existenz.« Dann schlägt er die Tür seines Wagens zu und beginnt seine zehnstündige Nachtschicht. Rund um das Krankenhaus Mongi Slim gibt es auch während der Sperrstunde genug Kunden, ist er sich sicher.

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