Heilige und unheilige Henker
Ursprung und Genese des Antisemitismus, seine Rassifizierung und die Folgen
Dem aufgeklärten Atheisten sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, sich mit Religion und Theologie zu beschäftigen. Nicht etwa, um dem Gläubigen seinen Glauben als Aberglauben anzukreiden, sondern um ein tieferes Verständnis von den Wegen und Irrwegen der Geistes- und also auch materiellen Geschichte zu gewinnen.
Der britische Judaist Hyam Maccoby nimmt sich mit »Ein Pariavolk« des Antisemitismus mit den Methoden der vergleichenden Anthropologie an. Den Begriff brachte Max Weber auf, indem er »den Juden« zwar durch die Einführung rationaler Finanzierungsmethoden einen Beitrag zur Entwicklung des Kapitalismus zugestand, ihnen das Organisationsvermögen zur Massenproduktion als zweiter Bedingung jedoch absprach. Das hätten nur die Protestanten mit ihrem ethischen Rüstzeug vermocht. Den Juden mangele es an der religiösen Billigung der Arbeit. Weber abstrahiert dabei vollkommen von den ökonomischen Zwängen, denen die Judäer nach Zerstörung ihres Staatswesens 135 u.Z. ausgesetzt waren, in dem ihnen immer wieder Handwerk, Ackerbau und Handel hauptsächlich in europäischen Ländern untersagt wurden. Maccoby vergleicht nun diesen Pariastatus mit etwa dem in Indien sich herausbildenden Kastenwesen, der Verdrängung von Gruppen aus ergiebigen Wirtschaftsbereichen. Ausführlich geht er auf Heraushebung der christlichen Religion als konkurrierende Gruppe ein, die sich der jüdischen Überlieferung bedient, um den Anspruch auf das »Volk Gottes« zu legitimieren.
Religion als ethische Richtschnur und ein Mittel zur Führung eines guten Lebens im Diesseits wurde zum Versprechen auf ein gutes Nachleben im Jenseits. Dafür musste freilich aus dem Volk der Juden ein »verstocktes« werden, und aus dem jüdischen Revolutionär Jesus, der wie viele seiner Zeitgenossen erfolglos gegen die römischen Besatzer auftrat und hingerichtet wurde, ein sterbender und auferstehender Gott werden. Namentlich Paulus griff die Überlieferung von Jesus auf und übertrug sie in den antiken hellenischen und mesapotamischen Mythos vom geopferten Gott. Aus einem Abendmahl wurde die Speisung mit dem Leib und Blut des Herrn. Maccoby gelingt ein anschaulicher Überblick über die Aneignung und Umdeutung von Geschichte und Geschichten durch die spätantiken Denkschulen, trotz manches polemischen Schlenkers. Erhellend zu lesen ist, wann und zu welchem Zweck ein Pariastatus konstruiert wurde, und in welchen Weltgegenden der religiös determinierte Antisemitismus keine Wurzeln schlagen konnte.
In »Judas Ischariot und der Mythos vom jüdischen Übel« geht Maccoby der Entstehungsgeschichte des »Neuen Testaments« nach, liest quellenkritisch und dekonstruiert die als Metapher des Urbösen personifizierte Figur des Judas, der im Laufe der Jahrhunderte zum pars pro toto der »jesusmordenden« Judenheit wird. Judas wird zum »Heiligen Henker«, zum Werkzeug im Göttlichen Plan, der aus Geldgier seinen Meister verrät und Satan folgt. Maccoby rehabilitiert Judas, der in das manichäische Weltbild von Gut und Böse gezwängt und zum Gegenspieler eines entjudaisierten Jesus wird. Er weist nach, dass noch geraume Zeit nach dem historischen Ereignis die Judaserzählung keinerlei Rolle spielte und erst sehr viel später zum Kern einer antisemitischen Fabel wurde, die bekannte Erzählmuster aufgriff. Gegenerzählungen jüdischer Christen wurden marginalisiert und verschwanden schließlich aus der Kirchenüberlieferung. Der vergöttlichte Jesus wurde zum allesbeherrschenden Symbol einer allesbeherrschenden religiösen (und weltlichen) Macht.
Das Fortleben dieser Denkfigur beschreibt Maccoby in »Der Antisemitismus und die Moderne. Die Wiederkehr des alten Hasses«, und es ist bemerkenswert, wie tief unsere Kultur und unser politischen Denken von Stereotypen durchtränkt ist. Insbesondere beschreibt er die Wandlung vom religiösen zum rassischen Antisemitismus. Nicht in allen Schlüssen mag man ihm folgen, lesens- und bedenkenswert ist es allemal.
Vor 60 Jahren wurde dem einstigen »Judenreferenten« im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann in Jerusalem der Prozess gemacht. Kein gewöhnlicher Kriegsverbrecherprozess, sondern einer, der von einigen mit gewisser Nervosität beobachtet wurde und an dem u.a. Friedrich-Karl Kaul als Nebenkläger auftreten wollte. »Eichmann im Kalten Krieg« ist die Dokumentation des Gerichtsprozesses und vor allem seiner medialen Aufbereitung in Ost und West. Der NDR brachte insgesamt 36 Sendungen, die DDR berichtete in der »Aktuellen Kamera« und im »Schwarzen Kanal«. Das Ringen um die verdrängte Vergangenheit war gleichzeitig Kampfplatz in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung. Und ein Wendepunkt in der Betrachtung des Holocausts.
Das Jahr 1938 war für Deutsche jüdischen Glaubens (oder jüdischer Herkunft) in der Tat eine Zäsur. Waren sie seit Machtantritt der Nazis zwar einer schrittweisen Verdrängung aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben und rassistischer Segregation ausgesetzt, hofften nicht wenige, dass dies nur die Flegeljahre des neuen Regimes sein würden. »In Echtzeit. Das Jahr 1938 aus jüdischer Perspektive« hält dieses Hoffen in Bildern und Dokumenten fest, das Bemühen um Normalität, um Kultur. Mit der »Reichskristallnacht« und dem Verbot der Kultur- und Sportvereine war es damit vorbei. Der Band faksimiliert u.a. ein Schreiben des Chemnitzer Oberbürgermeisters an die Israelitische Religionsgemeinde, dass sie doch dem Abbruch der Reste der »in Brand geratenen« Synagoge zustimmen möge, der im übrigen schon beschlossen sei. Die folgenden Seiten dokumentieren das verzweifelte Bemühen um Auswanderung nach Shanghai oder Palästina, um ein Visum für die USA oder wenigstens auf einen Kindertransport nach England, die Sorge und Ungewissheit um die Verwandten, die nicht aus Deutschland bzw. dem mittlerweile angeschlossenen Österreich herauskamen.
Dass Grete Weils »Tramhalte Beethovenstraat« bei seinem Erscheinen 1963 im Meer des Desinteresses versank, kann weder am Sujet noch erzählerischen Vermögen der Autorin gelegen haben - elegante Sätze, Spannung und Suspense, Phantasmagorien, psychologische Tiefe. Der Dichter Andreas, nervös und kränklich, wird 1942 als Korrespondent nach Amsterdam geschickt, um dem Frontdienst zu entgehen. Eines Nachts sieht er vor seinem Haus Menschen, die in Reihen in den Trambahnen verschwinden. Er hält sich für verrückt und sucht einen Arzt auf. Der erklärt ihm, dass die Deportationen der Juden Realität sind. Andreas ist daraufhin besessen davon, jüdisches Leben zu retten, zu zeigen, dass es auch gute Deutsche gibt. Doch er verliert Daniel, den Jungen, den verstecken will. Nach dem Krieg versinkt er in einem falschen Leben, dass von Wagemut und Verrat nichts wissen will. Die Schatten lasten schwer, auch auf den einstigen Widerständlern. Wo ist Daniel? Im März 2021 wurde »Beethovenstraat« neu aufgelegt, und wenn dieser Roman nicht in den Kanon aufgenommen wird, sollen sich zur Strafe sämtliche Bücher in diesem Land in Konsalik-Romane verwandeln.
»Max & Consorten« ist ein richtiger Page Turner, wie man Schmöker heutzutage nennt; und vielleicht bin ich dem Schmökern schon zu lang entwachsen, um ihn richtig gut zu finden. Die Romanhandlung setzt unmittelbar nach Kriegsende ein. Die kesse Babette, deren Mann als Hitler-Gegner nicht überlebt hat, bringt sich und ihre Söhne mit Geschäften durch, die nicht immer astrein sind. Einst Mitglied der feinen Hamburger Gesellschaft, begegnet sie ihrem Milieu mit einer gewissen Distanz. Als ihrer Jüngster, Max, sie fragt, ob es stimme, dass sie Juden seien, heißt sie ihn schweigen. Wieder und wieder begegnet sie den Funktionsträgern des untergegangenen Reiches, die ihr ganz unbefangen den Hof machen und sich wieder nach oben strampeln. Babette aber geht auf einen persönlichen Rachefeldzug, da sie auf Sühne durch den Rechtsstaat nicht zu hoffen braucht. Wie auch einige andere in ihrem Umfeld, die die Mörder und Denunzianten nicht ungeschoren davonkommen lassen wollen. Dem Autor gelingt eine stimmige Zeichnung der Atmosphäre der 40er und 50er Jahre, des Alltagslebens. Leider geraten ihm die Rückblenden in das Leben der Babette, auf die Raubzüge der Gangster in Uniform und die Entrepreneure des Todes zu didaktisch. Zu bekenntnishaft, wie in einem schlechten Arztroman, wirken oft die Aufdeckungen dunkler Geheimnisse, zu operettenhaft der Auf- und Abgang prominenter Namen reichs- und bundesdeutscher Wirtschaftsgeschichte. Das ist schade bei so vielen guten Ansätzen und der überzeugenden Grundidee. Aber vielleicht lassen Sie sich von meinen Mäkeleien nicht abschrecken und geben sich ganz der Schmökerei hin. Vergnügen und Erkenntnis lassen sich daraus sicher ziehen.
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