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Lässt sich der koloniale Genozid in Amazonien messen?
Forscherstreit über Pollen in Seen und die CO 2 -Konzentration der Atmosphäre als Maß der vorkolonialen Bevölkerung im Regenwald
Wie viele Menschen lebten vor der Ankunft von Kolumbus auf dem amerikanischen Doppelkontinent? Und wie viele davon in Amazonien? Und inwieweit führte die europäische Kolonisierung zum Genozid, sprich zur Entvölkerung dieser größten tropischen Regenwaldregion? Dies sind zwei seit Jahrzehnten höchst umstrittene Fragen der Geschichtswissenschaft. Je nach Forschungsansatz reichen die Schätzungen der präkolumbianischen Bevölkerung der Amazonasregion von 500 000 bis zu 20 Millionen Menschen. Laut einer 2019 veröffentlichten Studie (»Quaternary Science Reviews«, Bd. 207, S. 13) führte die Kolonisierung Nord- und Südamerikas durch die Europäer im 15. und 16. Jahrhundert zu einem gewaltigen Genozid mit einem geschätzten Rückgang der Bevölkerung um 90 bis 95 Prozent. Eine kürzlich im Fachblatt »Science« (Bd. 372, S. 484) vorgestellte Forschungsarbeit will diese Hypothese zumindest für das Amazonasbecken widerlegt haben: Die indigene Bevölkerung Amazoniens sei bereits Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer kollabiert und habe weite Gebiete verwaist hinterlassen.
Von 1300 bis 1870 erlebte die Welt eine »kleine Eiszeit«, verbunden mit einer deutlichen Verringerung der atmosphärischen CO2-Konzentration um 7 bis 10 ppm (parts per million) zwischen dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Wissenschaftler des Instituts für Geografie am University College London brachten in ihrer Studie aus dem Jahre 2019 diesen Orbis-Spike genannten signifikanten Rückgang des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre um das Jahr 1610 herum mit einem kolonialen Genozid in Nord- und Südamerika in Verbindung.
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Denn als Ursache dieser CO2-Reduzierung und globalen Abkühlung zu jener Zeit sieht die Studie den von der Ankunft der Europäer ausgelösten Bevölkerungsrückgang in Latein- und Nordamerika von insgesamt etwa 60 Millionen auf nur sechs Millionen Menschen. »Das große Sterben der indigenen Völker Amerikas« habe dazu geführt, dass weite, für die Landwirtschaft ursprünglich gerodete Flächen aufgegeben wurden, erläutert der leitende Autor der Studie Alexander. Die nun auf Millionen von Hektar verwaister Felder nachwachsenden Wälder insbesondere im Amazonasbecken hätten daraufhin der Atmosphäre vermehrt CO2 entziehen und in ihrer Biomasse speichern können. So die Hypothese.
Doch die in diesem Frühjahr in »Science« veröffentlichte Arbeit eines internationalen Wissenschaftlerteams unter Leitung des Paläontologen Mark Bush vom Florida Institute of Technology widerspricht dieser Annahme. Das Nachwachsen der Regenwälder habe tatsächlich bereits viel früher stattgefunden, und die indigene Bevölkerung sei in weiten Teilen des Amazonasgebiets bereits einige Jahrhunderte, bevor die Spanier Vicente Yáñez Pinzón im Jahr 1499 und Francisco de Orellana 1542 den Amazonas »entdeckten«, zusammengebrochen. Die Ankunft der Europäer habe »lediglich« einen bereits bestehenden Trend verschärft.
Fossile Pollen sprechen für eine frühere Regenwalderholung
Die Studie basiert auf Pollenablagerungen und Holzkohlepartikeln aus den vergangenen zwei Jahrtausenden, die die Forscher in den Sedimenten aus 39 amazonischen Seen in Brasilien, Peru, Ecuador und Bolivien gefunden hatten. Die fossilen Pollen spiegeln die Änderungen der Vegetation im Laufe der Zeit wider, und Holzkohle im Sediment ist ein Hinweis auf mögliche Brandrodung.
Das Forschungsteam konzentrierte sich insbesondere auf das Vorhandensein von Pollen der schnell wachsenden Pionierbaumgattung Cecropia. Die auch Ameisenbäume genannten Pflanzen brauchen viel Licht und erobern deshalb zuvor entwaldete Flächen als erste. »Diese Bäume wachsen in zwei Jahren von nichts auf fünf Meter, so schnell, dass sie hohl sind und tatsächlich von Ameisen bewohnt werden«, erläutert Bush. Die Ameisenbäume werden in der Regel nach einigen Jahrzehnten von anderen, in ihrem Schatten gedeihenden Baum- und Palmenarten verdrängt. Große Mengen von Cecropia-Pollen in der Sedimentschicht deuteten deshalb darauf hin, so die Theorie, dass die Umgebung der Seen kürzlich verlassen worden war und sich die natürliche Waldregenerierung in einem frühen Stadium befand.
Aufgrund dieser Daten schlossen Bush und seine Mitautoren, dass ein Nachwachsen der Regenwälder an vielen Orten in Amazonien bereits 300 bis 600 Jahre vor der Ankunft der Europäer und vor dem Orbis-Spike begonnen hatte, was wiederum auf einen deutlichen präkolumbianischen Rückgang der Bevölkerung in der Region hindeute. Im Zeitraum zwischen 1550 und 1750 fanden die Forscher hingegen keinen Hinweis auf nachwachsende Wälder in den Seesedimenten, was im Umkehrschluss einem massiven Genozid in dieser Zeitphase widerspräche.
Aber was könnte den frühen Rückgang der indigenen Amazonasbevölkerung ohne den Einfluss von Invasoren ausgelöst haben? Die Ursachen für die Entvölkerung der Region vor 950 bis 1500 Jahren müssten noch untersucht werden, so Bush. Doch sich akkumulierende Effekte von Umweltveränderungen, vorkolonialen Pandemien und Gewalt zwischen indigenen Völkern Amazoniens könnten dazu beigetragen haben.
Eduardo Góes Neves vom Museum für Archäologie und Ethnologie der Universität von São Paulo ist nicht von den Argumenten Bushs und seiner Kollegen überzeugt. Der signifikante Rückgang des Kohlendioxids nach der Ankunft der Europäer könne nicht anders als durch eine vermehrte Waldzunahme zu dieser Zeit erklärt werden. Neves: »Ich stimme den Schlussfolgerungen des Artikels nicht ganz zu, finde aber gut, dass er veröffentlicht wurde, weil er eine riesige Synthese von Daten ist«, sagt Góes Neves.
Auch der Geograf Alexander Koch, einer der Hauptautoren der Studie von 2019, findet die neue Forschungsarbeit nicht überzeugend. Sie sei ein wichtiger Beitrag, widerlege aber nicht die Haupthypothese seines Artikels, der sich auf ganz Amerika und nicht nur auf Amazonien beziehe. Die Aussagekraft der fossilen Pollen sei zudem beschränkt. Koch: »Pollendaten sagen uns nur, ob der Wald an einem bestimmten Ort nachgewachsen ist.«
Basiert jegliche menschliche Entwicklung auf Abholzung?
Abgesehen von den unterschiedlichen Forschungsansätzen und Ergebnissen haben beide Studien allerdings eine fundamentale Gemeinsamkeit. Beide gehen von dem Postulat aus, dass größere Bevölkerungen nur durch Abholzung und Ausweitung von Ackerflächen ernährt werden könnten.
Doch Agrarforschung und ethnobiologische Studien haben bereits vor Jahren gezeigt, dass artenreiche Agroforstsysteme je Hektar Fläche mehr Nahrungsmittel produzieren können als Monokulturen auf Feldern. Bis heute nutzen in Amazonien indigene Völker solche komplexen, zahlreiche Baumarten kultivierenden Produktionsweisen. Schon in den 80er Jahren stellte der Ethnobiologe Darrell A. Posey in einer Arbeit über von Menschenhand erzeugte Regenwaldinseln - sogenannte »Apêtê« - im Cerrado des südöstlichen Amazonasgebiets fest, dass zumindest die Kayapó-Indianer seit Jahrhunderten aktiv Waldvermehrung zur Erhöhung des Nahrungsmittelangebots betrieben haben und nicht Waldvernichtung. Entwaldung muss also nicht unbedingt mit Bevölkerungszuwachs einhergehen und Waldzunahme nicht mit Bevölkerungsrückgang.
2006 legten die Forstwissenschaftler Robert P. Miller und Ramachandran Nair in einer Forschungsarbeit nahe, dass Agroforstsysteme bereits vor Kolumbus »große Populationskomplexe entlang der amazonischen Hauptflüsse« ernährt hatten. Trotz der Umwälzungen in der Kolonialzeit, die die einheimische Bevölkerung stark dezimierte, gebe es noch eine große Vielfalt indigener Agroforstpraktiken, schrieben die Forscher im Fachjournal »Agroforestry Systems« (Bd. 66, S. 151). Ob die heutigen Anbaumethoden der amazonischen Ureinwohner mit denen ihrer Vorfahren übereinstimmen, sei indes schwer zu beantworten: »Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die in der ethnobiologischen Literatur der vergangenen Jahrzehnte beschriebenen komplexen indigenen Agroforstsysteme direkte Nachfolger der Systeme sind, die vor der Ankunft der Europäer existierten.«
Botaniker identifizierten bereits in den 90er Jahren mindestens 138 Pflanzenarten, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der indigenen Bevölkerung in Amazonien kultiviert oder bewirtschaftet worden waren, von denen 68 Prozent Baum- oder Staudenarten sind.
»Das Erbe der präkolumbianischen Landnutzung im Amazonas-Regenwald ist eines der umstrittensten Themen in den Sozial- und Naturwissenschaften«, fasste ein Team von Wissenschaftlern aus Brasilien, den Niederlanden und Großbritannien im Fachmagazin »Nature Plants« (Bd. 4, S. 540) zusammen. »Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass im östlichen Amazonasgebiet die Existenzgrundlage für die Entwicklung komplexer Gesellschaften vor etwa 4500 Jahren mit der Einführung einer vielfältigen Agroforstwirtschaft begann.«
Fazit: Die geschichtliche Erforschung des Amazonasbeckens und seiner Urbevölkerungen ist noch lange nicht zu Ende. Es gibt noch reichlich Spielraum für wissenschaftliche Spekulationen. Nur eines ist sicher: Mit jedem Tag und jedem Hektar, der in Brasilien, Peru, Bolivien, Guyana, Kolumbien, Venezuela, Suriname, Französisch-Guayana oder Ecuador abgeholzt, abgefackelt und für landwirtschaftliche Monokulturen oder Erzausbeutung umgepflügt, ausgegraben, von den tropischen Regenfällen weggeschwemmt oder von Mega-Wasserkraftwerken wie Belo Monte überflutet wird, verliert die Menschheit unwiederbringlich nicht nur Diversität, sondern auch ein Stück Geschichte.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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