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»Wir müssen Druck machen, um uns zu wehren«
Afro-Gemeinden und indigene Dörfer leiden in Kolumbien unter anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen
Der Notruf der Afro-Gemeinde Monte Bravo am Fluss San Juan im Departamento Chocó von Kolumbien hört sich an wie aus einem Kriegsfilm. Gewehrsalven, Schüsse, Granaten, dröhnende Militärhubschrauber; Menschen, die sich aus Angst in den Fluss stürzen. Explosionen und Detonationen führten zu Angst und Schrecken bei den Bewohner*innen, die sich zum Zeitpunkt einer Militäroperation am 21. Juni im Dorf befanden.
»Wir versuchten uns so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, denn die Militärs schossen auf alles, was sich bewegt. Einige sprangen in den Fluss, andere schafften es mit Booten ans gegenüberliegende Flussufer«, berichtet Darnelly mit aufgeregter Stimme. Erst nach Stunden seien sie gemeinsam mit Bewohner*innen aus den umliegenden Dörfern, die mit ihren Booten zu Hilfe geeilt waren, in ihre Häuser zurückgekehrt. Erschüttert mussten sie feststellen, dass die Soldaten ihre Habseligkeiten durchwühlt hatten. Ohne Durchsuchungsbeschluss wurden Handys, Bargeld, Ausweise und Kleidung beschlagnahmt. Handyvideos bezeugen die Spuren der Verwüstung. »Wir verstehen nicht, warum die staatlichen Sicherheitskräfte die Zivilbevölkerung attackieren und unsere Häuser durchsuchen. Bis heute habe ich meinen Ausweis und mein Handy nicht zurückbekommen, und es fehlt mein Bargeld, das ich in meinem Zimmer hatte«, klagt der Sohn von Darnelly, der sich in den Fluss gerettet hatte. Er fürchtet, dass er nun Opfer einer juristischen Inszenierung werden könnte.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Zivilisten aus den Dörfern willkürlich verdächtigt würden und ihnen Mitgliedschaft in der Guerilla vorgeworfen würde. Der Sohn von Darnelly zeigt uns leere Patronenhülsen und Einschüsse an den Bäumen in unmittelbarer Nähe seines Hauses. Seine Familie traut sich wie die anderen Bewohner*innen nur mit Begleitung zurück in ihr Dorf - aus Angst, dass sich das traumatische Ereignis wiederholen könnte. Sie sind geflohen und bei Freunden und Familien in anderen Dörfern am Fluss vorübergehend untergekommen. Ein weiteres tragisches Schicksal der über sieben Millionen Binnengeflüchteten des über 60 Jahre anhaltenden Bürgerkrieges in Kolumbien. Das Land ist weltweit nach Syrien Spitzenreiter in Sachen interner Vertreibung.
Trotz des Friedensabkommens von 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC-EP, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens - Volksarmee, findet das Land keine Ruhe. Im Gegenteil: Die ELN-Guerilla, FARC-Dissident*innen, Paramilitärs und die staatlichen Streitkräfte ringen in vielen Regionen um die territoriale Kontrolle. Die Zusammenarbeit zwischen Paramilitärs und der Armee ist nur ein Teil des schmutzigen Krieges, wie unzählige Massaker und Zeugenaussagen belegen. Es geht um Schutzgelderpressung, Koka-Anbau, Schmuggelrouten für Drogen und Waffen, illegalen Bergbau. Es wird geschätzt, dass 82 Prozent des Goldes über illegale Organisationen umgesetzt werden. Wer sich dem entgegenstellt, riskiert Leib und Leben. Allein in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres wurden 73 soziale Aktivist*innen und demobilisierte FARC-Guerilleras und -Guerilleros ermordet. Laut dem Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien (Indepaz) steigt damit die Zahl seit Unterschrift des Friedensabkommens auf über 1000 Morde.
Keine Antwort vom Militär
Bis heute weiß niemand, welche Gruppe für die Militäroperation in der Gemeinde Monte Bravo verantwortlich ist. Der General des Militärbataillons dementierte, dass seine Einheiten zum Zeitpunkt der Operation in der Gegend aktiv waren. Somit komme nur das nationale Militär infrage, dass jederzeit unabhängig Operationen im Staatsgebiet durchführen könne. Und die Mühlen der staatlichen Institutionen mahlen langsam, wenn man auf Anfragen zum Militär eine Antwort bekommen möchte.
Die Ombudsstelle für Menschenrechte (Defensoría del Pueblo), der öffentliche Beauftragte zur Kontrolle staatlicher Behörden (Personería) und die Staatsanwaltschaft für Verwaltungsfragen (Procuraduría) kamen erst nach vier Tagen ins Dorf, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Der Ombudsmann der Region, Antonio Ruíz, empfahl den indigenen und Afro-Gemeinden bei dem Treffen, sich noch besser zu organisieren, um sich vor bewaffneten Übergriffen schützen zu können. Wichtig sei zudem die Kommunikation nach außen, denn viele Menschenrechtsverletzungen würden aus Angst weder angezeigt noch registriert. So geschehen im Jahr 2017, als das Dorf Barrios Unidos ganz in der Nähe des aktuellen Schauplatzes vom Militär bombardiert wurde. Damit sich die Angriffe des Militärs auf die Gemeinden nicht wiederholen, müsse es laut Ruíz dem Staat an den Geldbeutel gehen. Deswegen müssten die Opfer Anzeigen erstatten und Entschädigungen vom Staat erkämpfen. So könne Druck auf das Militär ausgeübt werden.
Die Menschen der Dörfer am San Juan sind sich einig, dass von den Streitkräften eher eine Gefahr als eine erhöhte Sicherheit ausgehe. Sie berichten von willkürlichen Durchsuchungen, Fotos und Ablichtungen ihrer Ausweise. »Sie behandeln uns wie Verbrecher, wo wir doch einfache Bauern sind«, beschwert sich der Sohn von Darnelly. Und Darnelly fügt hinzu: »Im ländlichen Raum werden die Rechte der Menschen täglich verletzt. Hier findet das Gesetz keine Anwendung.« Häufig können sie nicht auf ihre Felder, weil Militäroperationen in der unmittelbaren Nähe ihrer Dörfer durchgeführt werden und das Militär ihnen den Zugang verwehrt.
Die Afrokolumbianer*innen der Region sind in Gemeinderäten zusammengeschlossen, die seit dem Gesetz von 1993 als traditionelle Zusammenschlüsse ehemaliger Sklav*innen anerkannt sind. Sie verfügen über kollektives Gemeindeland, dass nicht privat veräußert werden kann. Ebenso wie die indigenen Autonomiegebiete der Embera und Wounaan. Letztere verfügen auch über eine eigene, unbewaffnete Einheit, um ihre Gebiete zu kontrollieren und ihre Gemeindemitglieder zu schützen.
Die verschiedenen Ethnien der Region arbeiten zusammen, um als Zivilbevölkerung aus dem bewaffneten Konflikt herausgehalten zu werden. Das ist in dieser umkämpften Region eine Mammutaufgabe, denn die Anwesenheit bewaffneter Akteur*innen ist allgegenwärtig. Nach ein paar Kilometern flussaufwärts tauchen drei Militärhubschrauber auf und machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Einer landet in Reichweite des Bootes und verschwindet hinter den dichten Baumkronen. Kurz danach erhebt er sich über dem Fluss und fliegt davon. »Wahrscheinlich holen sie gerade Soldaten ab, die in der Region operieren«, vermutet Gibaldo. Er umfasst das Steuer des Bootsmotors mit beiden Händen. Seine kräftigen Unterarme sind angespannt. Das Boot über die Flüsse zu navigieren ist Schwerstarbeit. Seit Stunden steht er in seinen Gummistiefeln im hinteren Teil, voll konzentriert, um Baumstämmen und Sandbänken auszuweichen. Seine Augen sind rot vom Fahrtwind und der gleißenden Sonne.
Der Fluss San Juan ist einer der Hauptströme des Departamentos, das aus einem Geflecht von Flüssen und Kanälen besteht. Straßen gibt es kaum, lediglich zur Hauptstadt Quibdó. Wer einen Bootsmotor besitzt, ist privilegiert. Viele Menschen bewegen sich wie seit Hunderten von Jahren mit ihren Bäumen rudernd übers Wasser. Stromaufwärts suchen sie die Ufernähe, weil dort die Strömung schwächer ist. An manchen Stellen ist der Fluss so breit, dass man das Gefühl hat, sich auf offenem Meer zu befinden. Unterbrochen wird der grüne Teppich am Ufer gelegentlich von Pfahlbauten aus Holz, die sich in Sichtweite des Flusses nebeneinander reihen. Die traditionelle Bauweise ist Ergebnis der Anpassung der Bewohner*innen an den Naturraum. Das Departamento Chocó im Nordwesten Kolumbiens ist eine der regenreichsten Regionen der Welt. Die Dörfer werden regelmäßig vom Starkregen überschwemmt. Eingekesselt zwischen der Andenkordillere im Osten und dem Pazifik im Westen, ist der Chocó zugleich eine der Regionen mit der größten Artenvielfalt an Pflanzen weltweit.
Menschen sitzen auf den Terrassen und beobachten die vorüberfahrenden Boote. Frauen waschen die Kleidung im Fluss und Kinder tollen im Wasser. In unmittelbarer Nähe die Felder, wo Mais, Kochbananen, Zuckerrohr und Reis angebaut werden - die Grundnahrungsmittel der Region. Kokospalmen gibt es zwar auch, aber sie würden eher am Küstenstreifen des Pazifiks angebaut und weniger im Landesinneren, berichtet uns Gibaldo. Als der Bug des Bootes abhebt und mehrmals auf die Wasseroberfläche knallt, erklärt er: »Die Wellen kommen vom Militärschiff, das uns vorausfährt.« Noch ist davon nichts zu sehen. Erst nach einigen Minuten erscheint ein riesiges Metallgehäuse, ein schwimmender Panzer mit Männern in Militäruniformen im hinteren, offenen Teil des Schiffes. Es werden Blicke ausgetauscht, doch gegrüßt wird nicht.
Verbreitete Skepsis
Die Skepsis gegenüber dem Militär ist auch in der Afro-Gemeinde Noanamá flussaufwärts deutlich zu spüren. Im Gemeindehaus stapeln sich Lebensmittelpakete und Plastikeimer mit Hygieneartikeln. Sie sind vom Norwegischen Flüchtlingsrat gespendet worden - humanitäre Nothilfe. Die rund 800 Bewohner*innen sind seit zwei Monaten in ihrem Dorf eingesperrt. Am 30. April hatten bewaffnete Gruppen das Militärgelände angegriffen, das sich auf dem kollektiven Gemeindeland befindet. In der Nacht hörten die Menschen Gewehrsalven und Detonationen. Alle blieben verängstigt in ihren Häusern. Seitdem bleiben die Menschen im Dorf und trauen sich nicht auf ihre Felder. Die Süßkartoffeln, Jamswurzeln, Maniok und Reis seien verloren. Die Bauern und Bäuerinnen hatten das Land mühsam wieder bestellt, nachdem im Jahr 2015 und 2016 ihre Pflanzungen aus der Luft mit Herbiziden großflächig besprüht wurden - eine gängige Methode des kolumbianischen Staates zur Drogenbekämpfung, die mittlerweile verboten wurde.
Es war nicht das erste Mal, dass die Kaserne angegriffen wurde. Die Afro-Gemeinde wurde im Jahr 2018 weder befragt noch davon in Kenntnis gesetzt, dass das Militär ihr Land besetzt. »Dies ist ein Verstoß gegen unsere ethnisch-territorialen Rechte, die in der Verfassung und im Gesetz von 1993 festgeschrieben sind. Zudem ist es ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, weil wir als Zivilpersonen unmittelbar Opfer von bewaffneten Auseinandersetzungen werden«, so Vanessa, die sich auf die Theke ihres Ladens stützt. Sie weiß, wovon sie spricht. Vor Jahren hat sie Acadesan mitgegründet, einen Zusammenschluss der selbstorganisierten Gemeinderäte am San Juan. Die Organisation versucht seit Jahren, juristisch gegen die Militärbasis vorzugehen, bisher ohne Erfolg.
Genaue Angaben über deren Größe und die Anzahl der stationierten Soldaten sind schwer zu bekommen. Niemand aus dem Dorf traut sich in die Nähe. Als Jäger aus dem Dorf im Wald auf Militärs trafen, wurden sie von diesen eingeschüchtert. Wenn sie das nächste Mal im Wald auftauchen würden, könne für nichts garantiert werden, so die Drohung. Lediglich die Überflüge der Hubschrauber zeugen davon, dass die Basis versorgt und Einheiten ausgetauscht würden. Es gebe keine Kommunikation zwischen dem Militär und der Gemeinde.
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich mein Dorf an die Situation gewöhnt hat und hofft, dass sich die Lage von selbst verbessert. Doch das ist eine Illusion. Wir müssen Druck machen und unseren Arsch hochkriegen, um uns zu wehren«, sagt Vanessa. Denn es würden bereits weitere bewaffnete Gruppen unweit der Region operieren. Würden diese hier einmarschieren, wäre das Schlimmste zu befürchten. Schon jetzt stehen viele Holzhäuser leer und sind dem Verfall ausgesetzt. Eine weitere Militarisierung wird das Dorf wohl nicht verkraften.
Übersetzung: Gabriel Engelbart
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