Massenweise hinter Gittern

Nirgendwo sind so viele Menschen in Haft wie in den USA. Wirksame Kriminalitätsprävention müsste auf sozialer Umverteilung beruhen

  • Lukas Egger
  • Lesedauer: 8 Min.

Das Thema der Masseninhaftierung in den USA hat in den vergangenen Jahren vermehrt Aufmerksamkeit bekommen. Sowohl der Erfolg von Sachbüchern zum Thema als auch Dokumentationen und TV-Serien haben dafür gesorgt. Das Ausmaß des US-amerikanischen Gefängniskomplexes ist mittlerweile dem politisch interessierten Publikum einigermaßen geläufig. Selten wird aber wirklich durchdrungen, wie obszön dieses System tatsächlich ist.

Seit den 1970er Jahren stiegen die Inhaftierungsraten in den USA von einem mit anderen westlichen Nationen vergleichbaren Niveau innerhalb von 40 Jahren um über 700 Prozent auf 760 Häftlinge auf 100 000 EinwohnerInnen an. Im Jahr 2008, am Höhepunkt der Entwicklung, war fast jeder hundertste Amerikaner inhaftiert und beinahe jede dritte Person hatte in irgendeiner Form einen Eintrag im Strafregister, war auf Bewährung oder hatte Zeit in einem Gefängnis verbracht. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Rate der Inhaftierungen in den USA in etwa das Zehnfache von Ländern wie Deutschland oder Dänemark. Obwohl die USA nur fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, sorgen sie global betrachtet für 25 Prozent der Häftlinge.

Zur Person

Lukas Egger studierte Politikwissenschaft in Wien. Für seine Masterarbeit zu kritischer Rassismustheorie im deutschsprachigen Raum erhielt er den Nachwuchspreis der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Er beschäftigt sich als Publizist, Referent und Lehrbeauftragter u. a. mit kritischer Gesellschaftstheorie, Rassismus und Antisemitismus.

Der hier veröffentlichte Text ist die stark gekürzte Fassung eines Artikels für die Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft »Prokla«, die sich in der aktuellen Ausgabe Nr. 203 den »USA vor, mit und nach Trump« widmet. »Prokla« feiert 2021 ihr 50-jähriges Bestehen und erscheint im Verlag Bertz + Fischer. 
Mehr Informationen: prokla.de

Im historischen Vergleich gab es, abgesehen von Stalins Sowjetunion, nie ein Land, das seine Bevölkerung in einem höheren Ausmaß inhaftiert hat. Die Inhaftierungsrate für Schwarze ist einstweilen präzedenzlos. Afroamerikanische Männer, die Ende der 1960er Jahre geboren wurden, hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, als ein Studium abzuschließen. Ein schwarzer Highschool-Abbrecher unter 35 Jahren hat noch heute eine größere Chance inhaftiert zu werden, als am regulären Arbeitsmarkt einen Job zu finden.

Dass die Zahl der Inhaftierten 2009 ihren bisherigen Höchststand erreicht hat und seitdem leicht sinkt, gibt Anlass zu leichtem Optimismus. Dieser Umschwung fiel mit dem Präsidentschaftsantritt von Barack Obama und dessen ersten Schritten zu einer föderalen Reformierung der Strafjustiz zusammen. Doch diese zeitliche Korrelation ist trügerisch. Unter Donald Trump wurde mit Obamas Reformprogramm weitgehend gebrochen. Trotz dessen ging aber auch zwischen 2016 und heute die Zahl der Inhaftierten insgesamt weiterhin zurück, womit sich der Trend seit 2009 fortgesetzte. Die Inhaftierungsraten fielen in den letzten zwölf Jahren und selbst unter Trump jedes Jahr um durchschnittlich etwa zwei Prozent.

Kurz nach seiner Amtsübernahme versprach der neue US-Präsident Joe Biden im Rahmen seiner Racial-Justice-Agenda, dem Gefängniskomplex ein Ende zu machen. Dass ausgerechnet Joe Biden zum Hoffnungsträger werden konnte, muss zunächst überraschend wirken: Es war Biden, der maßgeblich für die Ausarbeitung des Violent Crime Control and Law Enforcement Act von 1994 verantwortlich war, der unter Präsident Bill Clinton verabschiedet worden ist. Dieser sah unter anderem die Ausweitung der Todesstrafe, das Anheben der Mindeststrafen für Drogendelikte und Subventionen für den Bau neuer Haftanstalten vor.

Dass der einstige Architekt autoritärer Strafjustiz heute als progressiver Reformer des Gefängnissystems gilt, kann als Indikator eines allgemeinen Trendwechsels in der US-amerikanischen Politik gelesen werden. Seit den frühen 2000er Jahren entwickelte sich - beschleunigt durch die Finanzkrise von 2008 - ein von beiden Großparteien getragener Diskurs, der den Gefängniskomplex als budgetäre Belastung betrachtet. Infolgedessen kam es zu einigen Verbesserungen: Isolationshaft wurde zurückgefahren, manche Staaten schafften die Todesstrafe ab, vorzeitige Haftentlassungen für Kleinkriminelle sowie alte und kranke Häftlinge wurden häufiger, Drogen- und vor allem Marihuanadelikte wurden entkriminalisiert oder zumindest weit weniger drakonisch bestraft als am Höhepunkt des Krieges gegen Drogen.

Allerdings waren diese Entwicklungen Teil austeritätspolitischer Strategien. Der Kostendruck auf die öffentlichen Budgets durch das überdimensionierte Strafjustizsystem sollte nicht nur durch die Reduktion von Gefangenen und Kulanz bei Kleinkriminalität, sondern auch durch den Abbau von Rehabilitationsprogrammen sowie Weiterbildungs- und Therapieangeboten für Häftlinge bewältigt werden. Gleichzeitig wurde die »Eigenfinanzierung« des Gefängnissystems durch die Häftlinge vorangetrieben, die administrative Kosten, Infrastruktur und Gesundheitsleistungen nun teilweise selbst zu zahlen haben und oft verschuldet das Gefängnis verlassen.

Die 80er kommen nicht zurück
Trotz steigender Mordraten gibt es vermutlich keine Wiederauflage der Null-Toleranz-Politik in den USA, meint Moritz Wichmann.

Dieser austeritätspolitische Konsens ermöglichte noch während Obamas Amtszeit, dass einige Republikaner*innen eine Reihe an reformistischen Bestrebungen unterstützten, die vor allem auf die Drogenpolitik bezogen waren. Allerdings beruht er auf einer Konzentration auf relativ einfach erreichbare und daher kosmetische Maßnahmen, wie die Reduktion von Strafen für Klein- vor allem Drogenkriminalität, obwohl letztere nur für einen geringen Teil der Häftlingszahlen verantwortlich ist. Das Strafmaß für Schwerverbrechen wurde hingegen oftmals weiter angehoben.

Während die Unterstützung der Strafjustizreformen bei Konservativen relativ offen austeritätspolitisch motiviert ist, wird dieselbe Politik von Demokraten gerne humanitär und sozialtheoretisch begründet. Liberale Reformer*innen sehen meist den maßgeblichen Grund für das Ausmaß an Häftlingen insgesamt als auch der rassifizierten Disparitäten in den Inhaftierungsraten im strafrechtlichen Umgang mit Drogenkriminalität. Auf Grundlage dieser Auffassungen war es für die Demokraten seit Obama möglich, oberflächliche Reformen im Bereich der Drogenpolitik als ambitionierten Beitrag zur Bekämpfung von Masseninhaftierung und Rassismus auszugeben.

Die letzte große Finanzkrise brachte starken Rückenwind für Reformen des Justiz- und Gefängnissystems. Während zwischen 2000 und 2007 verschärfende Strafrechtsreformen drei Mal so häufig vorkamen als progressive Reformen, drehte sich dieses Verhältnis zwischen 2007 und 2012 um. Diese Maßnahmen hatten definitiv Auswirkungen auf die Inhaftierungsraten und waren für jene, die aufgrund der Verbesserungen früher entlassen oder weniger lange Haftstrafen zu verbüßen hatten, von unschätzbarer Bedeutung. Da die Reformen aber zu großen Teilen auf das Lieblingsthema der Standardstory (minderschwere Drogendelikte) fokussierten, blieb ihre Wirkung beschränkt, woraus sich das langsame Tempo des Rückgangs der Inhaftierungsraten erklärt.

Reformen, die zu einer dauerhaften und einschneidenden Reduktion der Inhaftierungsraten und Häftlingszahlen führen sollen, hätten auf einem völlig neuen Umgang mit Gewaltverbrechen aufzubauen. Rehabilitative und therapeutische Lösungen müssten offensiv auch für schwere Vergehen gefordert werden, anstatt, wie die Standarderzählung, zu insinuieren, es ginge beim Abbau der Masseninhaftierung nur um einen neuen Umgang mit minderschweren Vergehen. Etwa 60 Prozent der Häftlinge verbüßen Strafen aufgrund von Mord, Totschlag, bewaffnetem Raubüberfall oder schwerer Körperverletzung. Auf sie müsste ernst gemeinte Gefängnisreformpolitik ihren Fokus legen.

Eine wirkliche Prävention gegen Kriminalität müsste auf massiver sozialer Umverteilung beruhen, die den illegalen Gewaltökonomien, die sich als Alternative zum formellen Arbeitsmarkt in den vom Kapital verlassenen Zonen der USA gebildet haben, den Boden entzieht. Bidens Ankündigung, Geld, das im Strafjustizsystem eingespart wird, in unterfinanzierte Gemeinden investieren zu wollen, wirkt allerdings wenig überzeugend, wenn man bedenkt, dass die vergleichsweise unterentwickelte Sozialpolitik jährlich drei Billionen US-Dollar kostet, während das gesamte Strafjustizsystem mit 250 Milliarden finanziert werden kann. Ein Ausbau sozialer Sicherungssysteme, der die Wurzel der für westliche Industrienationen unüblich stark ausgeprägten Gewaltrate der USA tangieren könnte, würde einen enormen Umfang an Investitionen voraussetzen, der nie und nimmer durch eine einfache Budgetverschiebung erreicht werden kann.

Der massive Anstieg von Gewalt in US-amerikanischen Städten ab den 1960er-Jahren war real und war Konsequenz aus der spezifischen, rassifizierten Modernisierungsgeschichte des US-Kapitalismus. Deswegen war die Masseninhaftierung allerdings noch lange nicht alternativlos - oder gar legitim. Der Kriminologe Patrick Sharkey hat vor wenigen Jahren argumentiert, dass der große Rückgang der amerikanischen Kriminalität seit den 1990er Jahren tatsächlich zu einem guten Teil auf den aggressiven Polizei- und Inhaftierungsstrategien beruhte, die zur Masseninhaftierung führten. Die Grausamkeit derselben wurde aber vor allem von den ärmsten und überproportional nicht-weißen Gemeinden ertragen, weswegen es nicht wundern kann, dass jene ihren sozialen Unmut nun vor allem anhand des Themas der rassistischen Polizeigewalt Luft machen.

Der Grund dafür, dass die Städte und Bundesstaaten auf den Anstieg von Gewalt mit härteren Polizei- und Inhaftierungsstrategien reagierten, liegt nicht zuletzt in der Struktur des politischen Systems der USA begründet. Der äußerst stark ausgeprägte Föderalismus der Vereinigten Staaten sorgt dafür, dass gerade im Bereich der Verbrechensbekämpfung die Staaten und Lokalitäten weitreichende Autonomie besitzen. Von den Bundesstaaten verwaltete Gefängnisse beherbergen fast 90 Prozent aller Häftlinge, Polizist*innen sind zu 80 Prozent im Dienst eben dieser Verwaltungsorgane und auch die Finanzierung des gesamten Strafsystems obliegt fast vollständig ihnen. Die Stärke der Bundesstaaten und der Gemeinden führt dazu, dass lokale EntscheidungsträgerInnen wesentlich direkter von ihrer Wählerbasis für Entwicklungen verantwortlich gemacht werden können. Staatsanwält*innen und Richter*innen werden in den USA, im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Systemen, in vielen Fällen direkt von der Bevölkerung gewählt, und die Polizei untersteht ebenso demokratisch gewählten Politiker*innen anstatt indirekt ins Amt berufenen Bürokrat*innen. Reformen müssten sich daher vor allem auf Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden niederschlagen.

Die Entwicklungen des letzten Jahres führen zu widersprüchlichen Voraussetzungen. Bidens American Jobs Plan lässt zumindest hoffen, dass die schlimmsten Zeiten fiskalpolitischer Austerität der Vergangenheit angehören. Zusätzlich dazu hat die Black-Lives-Matter-Bewegung Rassismus und Strafjustizreformen radikal auf die politische Tagesordnung gesetzt, während darüber hinaus erneut die Gewalt auf den Straßen zu explodieren scheint: Die Zusammenhänge sind noch unklar und kaum erforscht, aber statistisch war 2020 das Jahr mit der höchsten Mordrate des 21. Jahrhunderts und wohl dem höchsten Anstieg zum Vorjahr aller Zeiten. Aus Sicht einer umfassenden, linken Strafrechtsreformpolitik könnte dieser ambivalente Moment ausgenutzt werden, indem Forderungen nach Investitionen in Arbeitsplätze und Infrastruktur mit einem weniger straffreudigen Vorgehen gegenüber Gewaltkriminalität in Verbindung gebracht werden.

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