Die Renaissance der Werte

Zwischen strikter Verbotskultur und ersehntem Freiheitstaumel: Ein Versuch der Ehrenrettung des Moralbegriffs in der zutiefst polarisierten Gesellschaft der Gegenwart

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine Grundsatzfrage: Wem würden Sie mehr vertrauen: Jemandem mit Moral? Oder doch eher jemandem ohne? Mag die Antwort auf diese Frage im persönlichen Kontext bei den meisten sicher sehr eindeutig ausfallen, kann diese Klarheit für den öffentlichen Diskurs nicht unbedingt behauptet werden.

Denn in den einschlägigen medialen Talk- und Streitformaten ist der Begriff längst negativ besetzt. Aus der Moral wurde die »Moralisierung«. Insbesondere Vertreterinnen und Vertreter bürgerlich-konservativer und liberaler Einstellungen betreiben dieses Framing, um damit die vermeintliche »Verbotskultur«, die derzeit auch stark mit der Partei Bündnis 90/Die Grünen assoziiert wird, zu geißeln. Suggeriert wird ein »Zukleistern« politischer Meinungsbildung mit weltanschaulichen Prinzipien - fernab von Maß und Mitte.

Dabei hatte das Wort, das etymologisch übrigens einmal mit Mut verwandt war, längst nicht immer einen schlechten Ruf. Es lohnt sich daher der Versuch einer Ehrenrettung der Moral - gerade für eine Zeitenwende, in der sich die Gesellschaft im Schatten des Klimawandels neu entdecken muss. Was sie uns heute zur Verfügung stellen kann, ist vor allem ein Kompass.

Als Sittenlehre im 17. Jahrhundert verstanden, birgt die Moral für die Gegenwart, wie der Ethiker Bernd Ladwig schreibt, ein »normatives System«. Sie äußert sich ferner »in der einsichtsvollen Beachtung anderer, unabhängig von allen Kräfteverhältnissen und zufälligen Vorlieben oder Abneigungen«. Indem sie Willkür verhindert und sich weder Launen noch Windrichtungen hingibt, stellt sie eine Gleichheit her. Andernfalls wäre sie schlichtweg überflüssig. Nur wo sie sich manifestiert, kommt jedem das zu, was auf Basis bestimmter Wertvorstellungen legitim erscheint.

Bezogen auf die derzeit hitzig diskutierte Umwelt- und Klimapolitik könnte sie dazu beitragen, die Lastenverhältnisse fairer zu verteilen. Wer also wie viel für die Abwendung der Klimakatastrophe zahlen kann, ist eine genuin moralische Frage, nämlich nach der Gerechtigkeit, die nicht nur für die Menschen einer Generation gilt. Wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt festgestellt hat, muss etwa der Freiheitsgedanke auch auf zukünftige - also noch ungeborene - Generationen ausgedehnt werden. Auch unsere Kinder und Kindeskinder müssen demnach das Recht haben, dieselben oder doch zumindest ähnliche Existenzgrundlagen vorzufinden, wie wir sie heute noch haben.

Der Versuch, egalitäre Bedingungen zu ermöglichen, geht nach dem Philosophen Bernhard Williams daher zurück auf das »Element der Universalisierung, das in jeder Moral anzutreffen ist«. Regeln, die alle gleichermaßen einhalten müssen? Diese Ambition erweist sich in der Spätmoderne durchaus als eine Herausforderung. Denn allen voran die sogenannten westlichen Gemeinschaften zeichnen sich aus Sicht des Soziologen Andreas Reckwitz durch individualistische Lebensweisen aus. Wie er in seiner mittlerweile kanonischen Studie »Gesellschaft der Singularitäten« (2017) festhält, ist heute jeder das Projekt seiner selbst. Man vermarktet die eigene vermeintliche Besonderheit in den sozialen Netzwerken, auf Instagram und Facebook, man strebt in Jobs, Urlaubswahl und der Freizeitgestaltung nach Abgrenzung.

Wohl auch aus diesem Grund hat die Moral, die ja eine potenzielle Veränderung persönlicher Gewohnheiten nahelegen könnte, bei vielen zurzeit keine Konjunktur. Sie sehen in ihr einen Killer für ihre persönliche Entfaltung.

Gleichwohl könnte die Moral eine Chance bieten, der häufig beschworenen »Spaltung der Gesellschaft« entgegenzuwirken. Sie schließt eben wirklich alle ein, unabhängig von ökonomischen oder ethnischen Unterschieden. Sie nimmt alle in die Pflicht und versteht Verantwortung als soziales und solidarisches Projekt. Das Große und Ganze genießt ihr zufolge Vorrang gegenüber singulären Neigungen und Befindlichkeiten. Statt Freiheit zu beschränken, fungiert sie dabei als deren Garant. Sie unterbindet, dass einige wenige sich ein Maximum an Autonomie auf Kosten der sich einschränkenden Mehrheit herausnehmen können - erweist sich doch gerade der Relativismus als ihr ärgster Gegenpol.

Ihr zweiter Konterpart heißt Pragmatismus. Er prägte mithin die Ära Angela Merkel, die Politik primär als reaktives Gestaltungsmittel in Gebrauch nahm. Wo Krisen aufkamen, suchte sie nach verträglichen Kompromisslösungen. Und zwar nicht immer von der Moral geleitet. In der Finanzmarktkrise wurden die Lasten und Schulden für die Bankenrettung »solidarisiert« und Aktionäre weitestgehend geschont. Derweil wurde der Klimawandel hier und da gemanagt und bei der Abgasaffäre auch mindestens ein Auge zugehalten.

Dass der aktuelle Wahlkampf zwischen CDU/CSU auf der einen Seite und Bündnis 90/Die Grünen auf der anderen Seite derart konfrontativ verläuft, lässt sich als unmittelbares Resultat dieses moderierenden und ausgleichenden statt eines Werte setzenden Regierungsstils verstehen. So geht es nicht allein um mehr oder um weniger Windräder, um Steuern rauf oder Steuern runter, um bessere und schlechtere Ernährung. Hinter der Polarisierung steht die tiefgreifende Auseinandersetzung um zwei Gesellschaftsphilosophien. Die eine glaubt daran, dass sich moralisches Bewusstsein infolge von staatlicher Steuer entwickeln kann. Die andere vertritt die Auffassung, dass es sich zuerst entwickeln muss und sich daraus Lenkungseffekte ergeben.

Ob letztere Strategie aufgeht, darf man mit Skepsis betrachten. Denn die Geschichte der Moral lehrt uns, dass sie nicht vom Himmel fällt, sondern zumeist in kleinen Gruppen ihren Anfang nimmt, die für sie einstehen und so lange für sie kämpfen, bis sie Gesetz wird. Als geeignetes Beispiel kann die Frauenrechtsbewegung dienen. Ihre Erfolge gehen eben nicht auf vorigen Wandel etwa Unternehmen zurück. Nein, ihre Vertreterinnen hatten Erfolg, weil ihr Fokus von Anfang an auf die Beeinflussung der Gesetzeslage gerichtet war.

Ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit der Moral findet sich in der Tierethik. Große Agrarkonzerne werden wohl kaum im Sinne des Wohlbefindens animaler Mitwesen umstrukturiert werden, wenn nicht der Druck seitens einer auf Normen basierenden Politik verstärkt wird.

Wer sich den enormen Problemen unserer Epoche widmen will, kann also nur schwer allen Ernstes auf einen moralischen Kompass verzichten. Nur dieser nährt Visionen, er generiert die Ideen für eine bessere und gerechte Welt. Weniger durch beliebige Weltanschauungen denn aus Gründen der Einsicht.

So begriff etwa der Philosoph Aristoteles die Moral als eine Sache der sich in »Charaktertugenden« äußernden Vernunft. Ihr Ziel bestünde primär darin, Konflikte zu entschärfen und auch Gegensätze zu befrieden sowie das Glück zu befördern. Nun mag man heute trefflich über diese etwas unscharfen Begriffe streiten. Die Bestimmung, was die Moral leisten kann und auch soll, hat sich jedoch über Jahrtausende hinweg ein kontinuierliches Versprechen bewahrt: Sie ringt um das Gute im Menschen - und für den Menschen. Allzu schnell die Keule der »Moralisierung« zu schwingen, bedeutet also letztlich nichts anderes, als so der Leere Vorschub zu leisten.

Diesen Vorstößen zum Trotz bedarf es eines ehrlichen Austauschs über Moral. Nur sie vermag es im Übrigen, Transparenz zu gewährleisten, weil sie Standpunkte klarmacht. Sie bereinigt den Diskurs von Phrasen zugunsten der Notwendigkeit, sich zu positionieren. Mit ihr käme dann wieder etwas in Mode, das insbesondere unter den derzeitigen Bedingungen von »Shitstorm« und »Hate Speech« ein echtes Ideal darstellen würde: Haltung.

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