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  • Berlin
  • IS-Rückkehrer aus Syrien und dem Irak

Willkommen zur Deradikalisierung

Mit einem Modellprojekt reintegriert Berlin ehemalige deutsche Islamisten aus Syrien und dem Irak

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn das Flugzeug mit den Rückkehrern aus Syrien und dem Irak an Bord im Anflug auf Berlin ist, sind die Behörden bereits vor Ort. »Wenn ein Haftbefehl vorliegt, ist die Polizei mit im Spiel. Für die Kinder beispielsweise steht der Kindernotdienst bereit«, sagt Samira Benz von der »Rückkehrkoordination für Berlin«. Das seit drei Jahren vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanzierte Modellprojekt ist in der Berliner Senatsinnenverwaltung angesiedelt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projekts kümmern sich um deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger, die einst zum sogenannten Islamischen Staat ausgereist sind und nun sukzessive nach Deutschland zurückkehren. Aus ganz Deutschland waren das 1070 Personen, allein aus Berlin zog es 135 Islamistinnen und Islamisten in das selbst ernannte Kalifat in Nordsyrien und dem Irak.
»Nach Berlin sind nach derzeitigem Erkenntnisstand 70 zurückgekehrt«, sagt Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD), der am Dienstag das Modellprojekt der Öffentlichkeit vorstellte. Darunter seien 20 Prozent Frauen. Von den seit 2012 ausgereisten Berlinerinnen und Berlinern fanden nach Informationen der Sicherheitsbehörden 20 unter anderem bei Kampfhandlungen den Tod. Wer als Kriegsverbrecher oder Unterstützer der Terrororganisation IS gilt und gegen den deshalb ein Haftbefehl vorliegt, wird nach der Rückkehr umgehend in Haft genommen und der Justiz überstellt.

Berlins Innensenator verwies in diesem Zusammenhang darüber hinaus auf die Anstrengungen des rot-rot-grünen Senats, Berlin nach dem verheerenden Anschlag auf den Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit 12 Toten vor islamistischen Anschlägen zu schützen. Neben der personellen Aufstockung und besseren Ausrüstung der Behörden im Anti-Terror-Kampf – unter anderem wurde vor Kurzem ein neues Gebäude an die Polizei übergeben – hat Berlin als Konsequenz aus dem Behördenversagen im Fall Breitscheidplatz auch strukturelle Veränderungen vorgenommen.

Neben repressiven geht es dabei auch um die Stärkung präventiver und deradikalisierender Maßnahmen. »Rückkehrkoordination ist aktive Sicherheitspolitik«, betont Geisel. Alle Maßnahmen würden darauf hinauslaufen, die Bevölkerung zu schützen. Das Ziel ist deshalb, vor allem die Personen aufzufangen, die sich inzwischen von ihrer dschihadistischen Vergangenheit und der Unterstützung islamistischer Organisationen distanzieren. »Wir können nicht in die Köpfe der Menschen gucken«, räumt Samira Benz ein. Dennoch gebe es Fälle, wo eine »glaubhafte Distanzierung« vorliege. In solchen Fällen beginnt die Koordination, gemeinsam mit anderen Institutionen und Behörden zu helfen. Den Rückkehrern werden verfügbare Wohnungen vermittelt, manchmal auch Arbeitsplätze. Unterstützung und Hilfe gibt es außerdem bei Kitaplätzen und der Kinderbetreuung.

Dass diese schwierige Arbeit in Hinblick auf die ehemaligen Dschihadisten vom Innensenator vorgestellt wird, begrüßt der Vorsitzende des Integrationsausschusses im Abgeordnetenhaus, Hakan Taş (Linke). »Diese Prozesse müssen transparent gemacht werden, damit die Öffentlichkeit nicht denkt, dass diese Menschen erneut gefährlich werden könnten«, sagt Taş, der die Ausreisebewegungen und dschihadistischen Aktivitäten früher als Innenpolitiker verfolgte. Von 2012 bis 2016 gelangten nicht nur Berlinerinnen und Berliner in die Kriegsgebiete, um dort zu kämpfen, Berlin galt auch als »Hinterland«, in dem unter anderem Nachtsichtgeräte verschifft und Gelder für die Dschihadisten gesammelt wurden. Für Taş ist es deshalb wichtig, um so etwas für die Zukunft auszuschließen, dass Projekten wie der »Rückkehrkoordination« der Rücken gestärkt wird.

Finanziell abgesichert durch Bundesmittel ist das drei Millionen Euro teure Modellprojekt »Rückkehrkoordination« indes nur bis zum Ende dieses Jahres. »Wir müssen sicherstellen, dass diese Arbeit langfristig fortgeführt werden kann«, sagt Innensenator Geisel am Dienstag. Der SPD-Politiker sieht Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der Pflicht. »Ich fordere den Bundesinnenminister auf, dass die wichtige Arbeit der Rückkehrkoordination fortgeführt werden kann.«

Zuletzt kamen kaum noch Rückkehrer nach Berlin. Wegen der Corona-Pandemie gibt es weniger Flüge und damit weniger Möglichkeiten. Viele Frauen und bis zu 120 Kinder sitzen unter widrigen Bedingungen in nordsyrischen und von Kurden verwalteten Lagern fest. »Wir sehen die Kinder in erster Linie als Opfer«, sagt Geisel. Weil es aber keine diplomatischen Beziehungen zu Syrien und auch nicht zu der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava gibt, gibt es keine gezielten Rückführungen. Auch das wäre Aufgabe des Bundes.

Der Islamismus-Experte Ahmad Mansour fordert in Hinblick auf die Rückkehrerinnen und Rückkehrer Kooperationen mit den lokalen Behörden in Rojava. »Noch besser wäre es, auch mit den kurdischen Behörden vor Ort zu kooperieren, um die Taten dieser Menschen zu dokumentieren«, sagt Mansour zu »nd«. Und: »Ich befürchte, dass diese Leute, die sich einer Terrororganisation angeschlossen haben, nicht die Strafen erhalten, die ihnen zustehen.« Überhaupt sieht Mansour die »koordinierte Rückkehr« als ein kleineres Übel an.

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