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Traumschiff ahoi!

Das soziokulturelle Stadtfestival »Altenburg am Meer« lädt eine Stadtgesellschaft zum Werkeln an einem Schiff, zum Nachdenken und Herumspinnen ein. Derzeit macht die »Mary-Jane« auf ihrer Tour nach Hamburg Zwischenstopp in Berlin

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 8 Min.

Zwischen den vielen kleinen Booten, die sanft auf dem Wasser der Rummelsburger Bucht schaukeln, ist die »Mary-Jane« schon von Weitem zu erkennen. In Blau, Rot und Gelb leuchtet ihr Bug, das Deck ist türkisfarben gestrichen. Bojen, Blumenkästen und wehende Fähnchen zieren die kleine, alte Motorjacht. Auf einem Transparent an der Reling steht in großen Buchstaben »Altenburg am Meer«.

Denn »Mary-Jane« ist eine Botschafterin aus der rund 30 000 Einwohner*innen zählenden Stadt im östlichsten Zipfel Thüringens. Eine ungewöhnliche Herkunft für so ein Boot. Altenburg liegt schließlich weder am Meer noch an einem Kanal. »Altenburg hat noch nicht mal einen Fluss«, sagt Valentin Schmehl und lächelt. Der Künstlerische Leiter des soziokulturellen Stadtfestivals verschwindet unter Deck, um Wasser zum Kaffeekochen zu holen.

Kein Strand oder Hafen? Macht nichts. Wenn man keinen Zugang zum Meer hat, dann brauche es eben Fantasie, sagt Schmehl. Das bedeutet: Kommt das Meer nicht nach Altenburg, dann kommt Altenburg eben zum Meer - mit Hilfe der Motorjacht, die über Berlin bis nach Hamburg fahren soll.

»Mary-Jane« ist ein Traumschiff - nicht, weil sie groß und schön und luxuriös wäre - sondern weil sie so viele Träume an Bord hat, ausgeheckt im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre. Weitergesponnen und konkretisiert wurden sie beim sechswöchigen Werkstattfestival von Ende Mai bis Anfang Juli in Altenburg.

An den Workshops beteiligten sich etwa 150 Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung, Ehrenamtliche, Gewerbetreibende, Künstler*innen und Handwerker*innen und viele andere. Gemeinsam haben sie das alte Boot flottgemacht, ein Puppentheaterstück entwickelt, eine Podcastreihe produziert, genäht, gebastelt, gehämmert und Anfang Juli schließlich eine große Parade durch die Stadt veranstaltet, bei der das Schiff feierlich verabschiedet wurde.

Organisiert wurde »Altenburg am Meer« von »openpavillon«, einem Projekt der Other Music Academy (OMA) in Weimar. Das soziokulturelle Zentrum will Menschen mit verschiedenen Interessen und Fertigkeiten zusammenzubringen. »Die Idee, die hinter alldem steht, ist, voneinander zu lernen. Andersartigkeit sehen wir als Potenzial«, erklärt Valentin Schmehl.

»openpavillon«, bezeichnet sich als »soziokulturelle Baustelle zwischen Kunst und Handwerk«. 2019 wurde im Rahmen des Projekts eine mobile und mehrteilige Bühne gezimmert, die auf dem Theaterplatz Weimar beim Yiddish Summer Weimar eingeweiht wurde. 2018 ging es um das Thema Garten, 2017 wurde eine »Kulturküche« gebaut.

Auch bei »Altenburg am Meer« kamen Expert*innen aus verschiedenen Bereichen zusammen, darunter ein Architekt mit Liebe für nachhaltigen Bootsbau sowie ein Lackierer und Sozialwissenschaftler. Außerdem dabei: eine internationale Truppe aus Kunst-, Theater- und Tanzkontexten. Das Kernteam bestand aus etwa 40 Leuten. An der Parade waren schließlich etwa 350 Menschen beteiligt, schätzt Valentin Schmehl.

Wenn Künstler*innen und Akademiker*innen aus Städten wie Berlin, Hamburg oder Leipzig in die Provinz schwärmen, um Kultur zu verbreiten, kann das gründlich schiefgehen. Doch es ist nicht das Konzept von openpavillon, irgendetwas irgendwo hinzubringen. Stattdessen geht es darum, kollektiv Ideen zu entwickeln.

Die Liste der Altenburger*innen, die sich engagiert haben, ist lang - und reicht vom Bauernverband über eine lokale Druckerei, ein Feinkostgeschäft bis hin zur Brauerei und einer Gerüstbaufirma - nicht zu vergessen das Eiscafé, das Meerjungfrauen-Eiskreierte.

Gemeinsam wurden Seesäcke und Bootspolster, Kostüme und Mützen genäht. Die Kirche spendete eine Bank, die jetzt auf der »Mary-Jane« als Deckel fürs Klohäuschen dient. Auch Klient*innen des Psychosozialen Diakoniezentrums halfen. In einer Knetwerkstatt entstanden Animationsfilme, die sich mit Umweltverschmutzung beschäftigen.

Finanziell gefördert wurde das Festival unter anderem von der Aktion Mensch, dem Fonds Soziokultur und der Thüringer Staatskanzlei. Vieles, was sonst gebraucht wurde, fand sich zusammen. Auch die alte Motorjacht, die bis vor anderthalb Jahren noch in Südfrankreich stand, war ein Geschenk vom Vater eines Wandergesellen, der beim Projekt dabei war, berichtet Valentin Schmehl. Bezahlt werden mussten nur Mautgebühren und Sprit für den Transport. »Kurz vor dem ersten Lockdown ist die Jacht in Altenburg angekommen«, erzählt Schmehl.

Bis der Bootsbau starten konnte, sollte es aber noch eine Weile dauern. Denn erst einmal kam die Pandemie - und damit eine unsichere Zeit des Wartens für alle soziokulturellen Projekte. Gleichzeitig war es eine Zeit des Improvisierens. »Durch Corona haben wir uns fünfmal neu erfunden«, sagt der Künstlerische Leiter. Denn eigentlich sollte das Festival im Herbst stattfinden, aber auch in Altenburg fiel das kulturelle und soziale Leben pandemiebedingt in den unfreiwilligen Tiefschlaf. »Alles um uns herum wurde abgesagt. Alles, was die Stadt belebt«, sagt Schmehl. Aus den Schulen hätte das Projekt damals die Botschaft erreicht: »Ihr könnt jetzt nicht auch noch absagen.«

Deshalb entschlossen sich die Teammitglieder, zumindest ein kleines, coronakonformes Programm zu ermöglichen. Anfang September stellten sie die »Mary-Jane« für zwei Wochen auf den Marktplatz und organisierten in Kooperation mit dem Residenzschloss Altenburg eine Hörspielwerkstatt. Die Seebrücke Deutschland informierte zu Möglichkeiten, Altenburg zum »sicheren Hafen« zu machen, und bei einem Filmabend ging es um Seenotrettung auf dem Mittelmeer.

Zu den Jugendlichen, die schon im Herbst dabei waren, gehören Kevin und Jasmin vom staatlichen regionalen Förderzentrum »Erich Kästner«. »In den zwei Wochen waren wir fast jeden Tag auf dem Markt«, erzählt Jasmin. Am Wochenende hätten die Leute abends auf dem Platz getanzt. Kinder und Jugendliche malten Plakate und entwarfen eine fiktive Seefahrt zu Orten, die sie gerne besuchen würden. Denn die Wenigsten von ihnen seien schon mal am Meer gewesen, sagt Valentin Schmehl. »Für die Kids ist das ein Sehnsuchtsort.«

Raum für Ideen, Wünsche und Pläne gab es auch bei den Programmpunkten - wie der Schreibwerkstatt, bei der Jasmin mitgemacht hat. »In dem Text ging es um eine Spezies, die zu uns gesprochen hat, aber nicht wusste, wie sie uns begrüßen sollte«, erzählt die 16-Jährige. Gefallen habe ihr vor allem, »dass es immer etwas Neues zu tun gab.«

Kevin hat beim Festival im Juni bei der Podcast-Produktion mitgemacht und das Mikrofon gehalten, während sein Freund Jason Interviews geführt hat. In der Folge, bei der er mitgewirkt hat, strandet ein Mann mit seinem kaputten Auto in Altenburg. »Ausgerechnet in diesem Kaff zu landen«, schimpft der. Doch dann begegnet er der Meerjungfrau Melusine, die ihn durch den Ort führt und zeigt, was es zu entdecken gibt: »Du glaubst nicht, was hier in diesem Altenburg alles passiert«, sagt sie. Bei ihrem Weg durch die Stadt lernen die beiden den Jugendtreff »Rote Zora« und einen Spieleclub kennen, der Menschen zusammenbringen will, damit nicht immer alle nebeneinander herleben.

In dem Podcast erfahren die Zuhörer*innen auch von Problemen der Stadt, in der mal 56 000 Menschen lebten. Heute ist sie ruhig, grün und ganz lebenswert, sagt André Neumann (CDU) im Interview mit den jungen Reportern. Gemeinsam stehen sie oben auf dem Rathaus, wo der Wind pfeift. »Man lebt in Altenburg ganz entspannt«, sagt Neumann. Allerdings wüssten Altenburger*innen immer, wie Dinge noch besser laufen könnten. »Wir nörgeln gern, und das nervt manchmal«, sagt der Bürgermeister. Andererseits: Kritik sei auch ein Ansporn, es besser zu machen.

Altenburger*innen seien anfangs etwas verschlossen, hätten dann aber viel Interessantes - und auch Geheimnisse - zu erzählen, berichtet die Meerjungfrau Melusine von ihren Erfahrungen. Und Valentin Schmehl bezeichnet Altenburg als Stadt mit viel Leerstand, einem reichen kulturellen und architektonischem Erbe sowie einer extrem engagierten Zivilgesellschaft. Wie die Stadt aussähe, wenn sie am Meer läge, überlegen Einwohner*innen im Podcast. Wo wäre der Strand? Und wo der Leuchtturm?

Nachdem in der zweiten Festivalwoche nach Überschwemmungen Keller vollgelaufen waren, setzten sich die jungen Reporter*innen in der nächsten Podcastfolge nicht nur mit den Aufräumarbeiten, sondern auch mit globalen Herausforderungen auseinander: mit der Erderwärmung, Grenzschutz, der Verletzung von Menschenrechten sowie den Folgen kapitalistischer Strukturen. Auch der Müll in den Meeren war ein Thema, mit dem sich die Workshops beschäftigten.

Die Fragen für die Interviews haben sich die Reporter*innen vorher gemeinsam überlegt, erzählt Kevin. Was ihm am besten gefallen habe? »Dass wir mit dem Bürgermeister sprechen konnten«, erzählt der 15-Jährige. Erst letzten Sommer sei er mit seiner Familie nach Altenburg gezogen - mitten in der Pandemie. »Es war scheiße, dass wir nicht rausgehen durften«, sagt Kevin.

Die letzten anderthalb Jahre waren gerade für junge Leute schwer, die sich ausprobieren und etwas erleben wollen. »Corona ist irgendwie da. Man bekommt es nicht weg«, sagt Jasmin. Sie hoffe, dass die Schule nach den Sommerferien im Präsenzunterricht stattfindet. »Das würden wir uns alle wünschen«, sagt Kevin.

Und »Mary-Jane«? Die hat gerade ein paar Probleme mit ihrem Motor. Aber so ist das bei alten Schiffen. In ihrer Reparatur- und Sommerpause liegt sie in der Rummelsburger Bucht in Berlin. Das Puppentheaterstück, das während des Festivals entwickelt wurde, soll Ende August oder Anfang September an der Insel der Jugend aufgeführt werden. Dort kann die »Mary-Jane« anlegen und Zuschauer*innen dürfen mal an Bord kommen. »Das Stück ist jetzt ganz intim geworden«, erzählt Valentin Schmehl. Zuschauer*innen gehen einzeln mit einer Audioführung von Station zu Station.

Irgendwann geht es dann weiter nach Hamburg. Schön wäre, wenn auch ein paar Jugendliche aus Altenburg dabei sein könnten, wenn die »Mary-Jane« in ihrem Zielhafen einläuft, sagt Valentin Schmehl.

www.openpavillon.eu/altenburgammeer

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