Es geht darum, die Stadt bewohnbar zu halten

Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther fordert von Bezirken mehr Engagement für die Verkehrswende

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 10 Min.

Die Wetterextreme der letzten Wochen, insbesondere die katastrophalen Überschwemmungen, haben die Diskussion um den Klimawandel und die Folgen noch einmal angeheizt. Auch in Berlin wurden Dinge angeschoben. Doch gefühlt geht es im Zeitlupentempo voran. Woran liegt das?

Die großflächig wirksamen Klimaschutzmaßnahmen sind ganz überwiegend langwierige Projekte. Weil es um aufwendige Planungsvorläufe und langlebige Investitionen geht. Das gilt für Infrastrukturen jeglicher Art, für den Bau klimaneutraler Stadtquartiere, für die Elektrifizierung der BVG-Busse, die Dekarbonisierung der Fernwärme und vieles andere mehr. Dies alles wurde vom Senat beschlossen und wird in den kommenden Jahren umgesetzt.

Interview
Regine Günther (Grüne) ist seit Dezember 2016 Berliner Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Zuvor war sie für den Klimaschutz bei der Umweltorganisation WWF zuständig. Warum die Verkehrswende nicht so vorangekommen ist wie erwartet und wie es künftig schneller gehen könnte, darüber sprach mit ihr Nicolas Šustr.

Ähnliches gilt für die Klimaanpassung, auch Berlin wird ja massiv von der Erderhitzung betroffen sein. Trinkwasser wird zu einem knappen Gut. Wir müssen dafür sorgen, dass Starkregenereignisse halbwegs beherrschbar werden - da geht es sowohl um Entsiegelung als auch um den aufwendigen Umbau der Kanalisation. Straßen und Plätze sind so umzugestalten, dass sich die Menschen auch bei Gluthitze dort bewegen können. Es geht darum, die Stadt lebenswert zu gestalten und sie letztlich bewohnbar zu halten.

An mancher Stelle haben Sie ja etwas erreicht, zum Beispiel mit dem Blühstreifen in der Mitte der Karl-Marx-Allee statt einer Pflasterung. Aber das Tempo reicht doch bei Weitem nicht. Wie wollen Sie denn die Dinge beschleunigen?

Selbst das scheinbar einfache Projekt an der Karl-Marx-Allee war eine durchaus komplexe Auseinandersetzung. Es markiert aber auch einen Anfang und ist eines der Vorhaben, bei dem nun praktische Ergebnisse für alle sichtbar werden.

Wir stehen vor einem Sparhaushalt. Ist Ihr Ruf nach mehr Geld und Personal da realistisch?

Das ist allein eine Frage der Prioritätensetzung. Es ist ja nicht so, dass kein Geld da ist oder da sein wird. Die Frage ist, wie wichtig der nächsten Koalition diese Dinge sind.

Laut Umweltbundesamt muss der Autoverkehr auf ein Drittel des aktuellen reduziert werden. Gleichzeitig plant Ihre Verwaltung mit der Tangentialen Verbindung Ost, der TVO, ein Straßenbauvorhaben, das Autofahren im Osten Berlins attraktiver machen wird. Der Neubau der Mühlendammbrücke in Mitte soll vier Autospuren aufweisen. Sehen Sie darin keinen Widerspruch?

Nein. Wir haben eine sehr klare Strategie: Wir bauen die Stadt um für weniger motorisierten Individualverkehr. Wir teilen Flächen neu auf zugunsten der stadtverträglichen Verkehrsarten. Zwei Drittel der Mühlendammbrücke werden dem Umweltverbund aus Rad-, Fuß- und öffentlichem Nahverkehr vorbehalten sein, wir reduzieren die Kfz-Spuren schon jetzt von drei auf zwei. Mehr ist vorerst nicht möglich, will man kein Nadelöhr schaffen. Wenn die Verkehrswende weiter vorangekommen ist, können wir die Verkehrsaufteilung auf der Brücke nochmals verändern, das ist Teil der Konzeption.

Bei der TVO gilt: Gehen Sie mal zu den Menschen in Friedrichsfelde, Karlshorst, Biesdorf, Köpenick. Es gibt dort den Nord-Süd-Autoverkehr - er ist eine Zumutung, und er wird nicht vollständig verschwinden. Die Verkehrswende zielt darauf ab, die Menschen so umfassend wie möglich zu entlasten und Perspektiven zu schaffen. Wir bauen die TVO daher nicht nur als Autostraße, sondern kombiniert mit einer Radverkehrstrasse und der Nahverkehrstangente, die weitere Entlastungen bringen wird.

Die Erfahrung in Berlin ist eine andere. Mit dem Bau der A113 am Teltowkanal sollten auf dem Adlergestell Autospuren wegfallen. Die Dörpfeldstraße in Adlershof hätte mit dem Bau des Südabschnitts der TVO für den Durchgangsverkehr gesperrt werden sollen. Das alles ist nicht geschehen - mit dem Ergebnis, dass dort überall viel mehr Autos fahren als vorher. Wie soll man glauben, dass nicht mehr Kapazität für den Autoverkehr geschaffen wird?

Ich kann jetzt nicht Einzelversprechungen der Vergangenheit bewerten. Wir wollen Berechenbarkeit und Vertrauen schaffen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir die entsprechenden Straßen in den Kiezen und Ortsteilen beruhigen werden.

Also muss ich Ihnen das einfach glauben?

Wir sind sehr klar bei unseren Zielen und Strategien. Dazu gehört, dass der Durchgangsverkehr verlagert wird, wenn die TVO da ist, so schnell und so konsequent wie irgend möglich.

Selbst wenn ich das Ihnen persönlich abnehme, muss die Mobilitätswende auch in Ihrer Verwaltung gelebt werden. Es gibt immer wieder Entscheidungen, die große Zweifel daran wecken. Wie sehr können Sie sich auf Ihre Beschäftigten verlassen?

Wir wären bei der Vielzahl von Themen und Veränderungen ohne das große Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses nie so weit gekommen. Darauf können alle stolz sein. Mein Eindruck ist, dass viele sehr klar sehen, dass wir die Dinge anders angehen müssen als in der Vergangenheit. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir intern noch besser werden können. Ich bekomme aber mittlerweile sehr häufig positive Rückmeldungen, aus meinem Haus und auch aus der Bevölkerung.

Ziemlich schnell ging es in der Pandemie auf einmal in Friedrichshain-Kreuzberg mit den Pop-up-Radwegen. Hat Sie der Bezirk da zum Jagen getragen?

Senat und Bezirk teilen sich hier die Zuständigkeiten. Dieser Erfolg basierte auf der schnellen und guten Kooperation beider Verwaltungen. Dies zeigt, welches Potenzial wir mit stringenter Zusammenarbeit heben können.

In den anderen Bezirken hielt sich der Enthusiasmus dafür offenbar in sehr engen Grenzen. Heißt das im Umkehrschluss, Sie haben hier zu wenig Unterstützung gegeben?

Friedrichshain-Kreuzberg hat gezeigt, was geht, wenn alle Seiten ihr Bestes geben. Es wurden klare Prioritäten gesetzt - personell, strukturell, finanziell, prozessual. Andere könnten dies auch tun, manche sind längst dabei. Unsere Unterstützung ist für alle gleich.

Die zuständige Steglitz-Zehlendorfer Bezirksstadträtin Maren Schellenberg, ebenfalls von den Grünen, will keine provisorischen Lösungen, sondern lieber gleich ordentlich umbauen. Die Reinickendorfer CDU-Bezirksstadträtin Katrin Schultze-Berndt agiert offen gegen die Verkehrswende. Nun werden Zielvereinbarungen mit den Bezirken als Lösung diskutiert. Aus Ihrer Partei kommen Forderungen nach einer Zentralisierung der Zuständigkeit in Ihrer Verwaltung. Was halten Sie davon?

Bereits vor zwei Jahren habe ich vorgeschlagen, die komplette Zuständigkeit für Hauptstraßen in die Senatsverkehrsverwaltung zu geben. Entweder wir zentralisieren und bauen in meinem Haus die Ressourcen dafür auf - oder die Bezirke stellen sich anders auf.

Wenn weder das eine noch das andere passiert, bleibt die Verkehrswende unter ihren Möglichkeiten. Als Land sind wir in einer Mittelposition: Es gibt die beschränkende Bundesgesetzgebung, die uns nur bestimmte Dinge ermöglicht. Hier müssen auf Bundesebene Veränderungen kommen. Gleichzeitig haben wir Bezirke, die verkehrsrechtliche Anordnungen nicht immer umsetzen. Es hat nichts mit dem Parteibuch zu tun, wenn wir Friedrichshain-Kreuzberg unterstützen. Ich würde das liebend gern in allen anderen Bezirken genauso machen. Aber wenn mir dann geschrieben wird, es gebe so viele Autos auf der Straße und da habe man keinen Platz für Radwege - dann kommen wir nicht weiter.

Ein großer Konfliktpunkt ist auch die Reduzierung von Parkplätzen. Wie soll Berlin da vorankommen?

Wenn wir Flächen neu aufteilen, wird es weniger Parkplätze am Straßenrand geben - zugunsten von sicheren Radwegen, aber auch für andere Nutzungen, für Grün, für Kinder, für Begegnungen. Es ist nicht im Sinne einer lebenswerten und zukunftsfähigen Stadt, wenn der Staat wertvolle Flächen zu Niedrigstpreisen für herumstehende Autos zur Verfügung stellt. Und dort, wo es weiterhin Parkplätze gibt, brauchen wir Parkraumbewirtschaftung. Im S-Bahn-Ring ist die flächendeckende Einführung beschlossen, die Umsetzung liegt in den Bezirken.

Klar ist aber auch: Es gibt Pflegekräfte, Handwerksbetriebe, Ver- und Entsorger, Menschen mit Einschränkungen, die weiter mit dem Auto unterwegs sein müssen. Aber dass man nicht mehr über die Straße gehen kann, weil Fahrzeuge dicht an dicht stehen und man schon allein zu Fuß nicht durchkommt, geschweige denn mit Kinderwagen oder Rollstuhl, das geht so nicht weiter. Es hat in den vergangenen 50 Jahren einen exzessiven Zuwachs beim Autobesitz und dem motorisierten Individualverkehr gegeben. Das muss sich deutlich ändern.

Neben mehr Fahrradinfrastruktur und weniger Raum für den motorisierten Individualverkehr funktioniert die Mobilitätswende nur mit dem Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Doch das Schieneninfrastrukturausbauprogramm i2030 ist in vielen Bereichen nicht über grundsätzliche Untersuchungen hinausgekommen. Stellt Sie das zufrieden?

Ich halte das Projekt i2030 für ein spektakuläres Vorhaben - und so etwas sage ich nicht oft. Es ist das erste Mal seit den 90er Jahren, dass Berlin und Brandenburg sich gemeinsam mit der Bahn ein bewusstes Zusammenwachsen vorgenommen haben, mit einem Milliardenprojekt über die kommenden 15 Jahre, das nicht einmal Teil des Koalitionsvertrages war. Wir haben dafür neue Planungsstrukturen geschaffen und auch einen guten Teil der Finanzierung gesichert.

Mancherorts wird schon gebaut, andere Projekte wurden beschleunigt, wie die S-Bahn-Verlängerung nach Rangsdorf. Und es wurde höchste Zeit: Wenn wir zwischen Spandau und Nauen nicht jetzt entscheiden, wie viele Gleise zusätzlich kommen, wird das Zeitfenster geschlossen sein.

Die S-Bahn nach Rangsdorf kommt so schnell voran, weil die brandenburgische Landesregierung ohne lange Prüfschleifen beschlossen hat, dass sie gebaut werden soll. Für die Potsdamer Stammbahn vom Berliner Hauptbahnhof über Zehlendorf nach Griebnitzsee wird seit Jahren geprüft, ob sie als S- oder Regionalbahn wiederaufgebaut werden soll. Sie wird als Entlastung im Eisenbahnnetz benötigt. Wie lange soll noch geprüft werden?

Bei der Potsdamer Stammbahn geht es um eine wichtige Systementscheidung mit sehr weitgehenden Konsequenzen, die sehr gut überlegt und begründet werden muss. Es soll jetzt sehr zeitnah entschieden werden.

Bei der S-Bahn werden die Planungen für zusätzliche Abstellgleise und neue Werkstatt-Standorte vorangetrieben. Maßnahmen für mehr Betriebsstabilität und zweigleisige Ausbauten im Außenbereich stehen weiter hinten in der Priorität. Teilweise werden durch Brückenneubauten Fakten geschaffen, die das zweite Gleis auf Jahrzehnte verhindern werden. Wie begründen Sie das?

Maßnahmen für die Betriebsstabilität werden nicht vernachlässigt, wir gehen allein für die S-Bahn 35 Einzelprojekte innerhalb des Projekts i2030 an. Das sind scheinbar kleine Schritte, aber mit großer Wirkung, etwa Kehr- und Abstellgleise, dritte Bahnsteigkanten, Signalverbesserungen. Es ist enorm wichtig, dass wir jetzt Vorsorge betreiben, auch und gerade mit Blick auf Abstellflächen und Werkstätten.

Wie sehen Sie Ihre Bilanz als Senatorin?

Bewerten sollen das andere. Ich kann nur darauf hinweisen, dass hier im Haus, das 2017 quasi neu gestartet ist, eine große Fülle an völlig neuen Vorhaben auf- und umgesetzt wurde. Wir haben die Mobilitätswende unumkehrbar eingeleitet, den Radverkehr massiv gestärkt, den Kohleausstieg beschlossen und viele andere Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung auf den Weg gebracht. Wir haben für den ÖPNV so viele neue Strecken, Wagen und Taktverbesserungen beauftragt wie seit Jahrzehnten nicht. Wir bringen die Elektrifizierung der Busflotte voran. Wir werden das weiterführen und beschleunigen - die große Aufgabe für die nächste Legislatur. Aber es ist uns auch gelungen, mit der Debatte über lebenswerte Städte, Flächengerechtigkeit und Verkehrssicherheit den Blick zu verändern, den viele Bürgerinnen und Bürger auf ihre Straßen, Plätze, ihre Nachbarschaft haben. Die Stadtdebatte, auch die in den Medien, läuft anders als noch vor fünf Jahren.

SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey nennt die Umverteilung verächtlich Bullerbü. Berlin sei keine Kleinstadt wie jene, aus denen viele Verkehrswende-Aktivisten kämen.

Wir möchten maximale Sicherheit und Lebensqualität für die Bürgerinnen und Bürger. Wie man das nennt, ist mir egal. Ich möchte, dass es mehr Raum für Menschen gibt - in einer Stadt, in der diese Menschen gern leben.

Sie sagen, Sie hätten Grundlagen gelegt, Dinge angeschoben. Würden Sie gern die Früchte der Arbeit als Senatorin in der nächsten Legislatur ernten?

Hier ist zunächst der Souverän gefragt: Erst einmal müssen die Wählerinnen und Wähler uns ihr Vertrauen schenken. Dann folgen Entscheidungen der Partei, über mögliche Koalitionen, mögliche Projekte und Verantwortlichkeiten. Erst dann geht es um Personen. Aber ich habe bereits gesagt, dass ich es mir gut vorstellen kann, dieses Ressort weiter zu führen.

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