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- Olympiasieger Florian Wellbrock
Schwimmen in einer eigenen Liga
Florian Wellbrock beendet mit Gold im Freiwasser eine 33 Jahre lange olympische Durststrecke
Als die deutsche Nationalhymne im Odaiba Marine Park erklang, verrichteten die sechs Männer, die die Flaggen der Medaillengewinner hissten, ihre Aufgabe mit einer bewundernswerten Präzision. Im Einklang und ohne sichtbare Hektik wurden das deutsche, das ungarische und das italienische Banner Stück für Stück hochgezogen. Es geschah nahe der Perfektion – und damit in gleicher Weise wie zuvor Florian Wellbrock durch das Wasser geglitten war. Die japanischen Flaggenbeauftragten und der Magdeburger hatten alles richtig gemacht. Ob die sechs Männer später Lob oder Bestätigung in anderer Form erhielten, ist unklar – der Deutsche wurde mit der Goldmedaille belohnt.
»Das fühlt sich noch ein bisschen unwirklich an«, sagte Wellbrock wenig später. Jetzt ein »Olympic Champion« zu sein, fühle sich aber in jedem Fall »unglaublich gut« an. Der 23-Jährige ist spätestens seit zwei Jahren, als er 2019 Doppelweltmeister über 1500 Meter im Becken und zehn Kilometer im Freiwasser wurde, Lichtgestalt und Hoffnungsträger des Deutschen Schwimmverbandes (DSV). Schon vor ein paar Tagen hatte Wellbrock mit der Bronzemedaille über 1500 Meter dem zuletzt bei Olympischen Spielen chronisch erfolglosen Verband Edelmetall beschert. Das Minimalziel war damit bereits erreicht. Die Vorgabe an sich selbst erfüllte er aber erst im knapp 30 Grad Celsius warmen Wasser in der Bucht von Tokio. »Wenn man als Weltmeister anreist, will man auch gewinnen«, gab er zu, als die Medaille um seinen Hals baumelte.
Seit den Spielen von Seoul 1988 hatte kein deutscher Mann im Schwimmen mehr triumphiert, seit dem Sieg von Uwe Daßler für die DDR über 400 Meter Freistil dauerte die olympische Durststrecke für den deutschen Schwimmsport an, Wellbrock beendete sie. Er gehörte zum Favoritenkreis von fünf oder sechs Athleten, alles andere als eine Medaille wäre eine große Enttäuschung gewesen. Gold war realistisch – unerwartet war aber die Dominanz, mit der er die Konkurrenz beherrschte: Der Stilist unter den Langstreckenschwimmern war im olympischen Rennen von Beginn an auch der Schnellste.
»Hier bei dem warmen Wasser ist es richtig, wenn man seine Kräfte schont«, sagte der Goldmedaillengewinner und versicherte, er sei den Rundkurs in der Bucht von Tokio nicht außergewöhnlich schnell angegangen. Außergewöhnlich war hingegen, dass niemand seinem Tempo folgen konnte. Wellbrock wunderte sich: »Als ich um die erste Boje rum bin, dachte ich für mich: Hey Jungs, wollt ihr keinen Wettkampf schwimmen?« Im Training an den Tagen vor dem Rennen hatte er für sich festgestellt, dass das Wasser zwar warm, aber nicht so viel wärmer sei als das im Becken. Daraus leitete er ab, dass er vorsichtig, aber nicht ängstlich ans Werk gehen würde.
Mit dieser Marschroute war er allen Konkurrenten voraus. Fünf Runden lang zog er einen kleinen Pulk von fünf Schwimmern hinter sich her, ehe er auf der vorletzten Schleife das Tempo erhöhte und davonzog. Der lange Schlussspurt auf den finalen 600 Metern raubte Wellbrock viel Kraft, sorgte aber gleichzeitig für einen Vorsprung von beeindruckenden 25 Sekunden auf den Ungarn Kristof Rasovsky und Gregorio Paltrinieri aus Italien. Das ist selbst auf dieser langen Distanz ungewöhnlich viel. Bei seinem WM-Erfolg 2019 hatte Wellbrock am Ende gerade mal zwei Zehntel Vorsprung, bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro waren die ersten Sieben nur vier Sekunden voneinander getrennt. Jetzt, in Tokio, war alles anders: Wellbrock schwamm im wichtigsten Rennen seiner bisherigen Karriere in einer eigenen Liga.
Mit seinen 23 Jahren ist er noch relativ jung, aber schon in der Lage, die Hoffnungen eines ganzen Verbandes zu schultern. Er hätte bei seinen ersten Olympischen Spielen sinnbildlich auch untergehen können, doch es gelang ihm, den Ärger aus den Rennen im Becken in Energie für den finalen Wettkampf umzuwandeln. »Ich hatte tatsächlich etwas Frust nach den Poolwettkämpfen«, räumte er ein. Eine Medaille sprang über 1500 Meter heraus, über 800 Meter schlug er als Vierter an. Wellbrock war jeweils auf der letzten Bahn von den Konkurrenten abgehängt worden. Die Gefahr bestand im Freiwasser nicht, weil er sie alle schon weit vor dem Zielspurt abgehängt hatte.
Paltrinieri lief etwas vor dem Sieger erschöpft in Richtung des Schattens, der zumindest etwas Kühlung versprach. Der Italiener, der Wellbrock über 800 Meter mit einem famosen Schlussspurt geschlagen, Silber gewonnen und den Deutschen auf den vierten Rang durchgereicht hatte, wurde gefragt, wie heiß es im Wasser gewesen sei. Paltrinieri, um dessen Hals die Bronzemedaille baumelte, antworte: »Es war heiß, aber das war nicht mein größtes Problem.« Wellbrock, der ihm unwiderstehlich enteilt war, hatte ihm größere Schmerzen bereitet.
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