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Am richtigen Ort
Olympiastadt Tokio: Zwischen sportlichem Sehnsuchtsort und dem Kampf um Normalität
Ein paar Jugendliche nutzen die Nacht, um ein Stück Freiheit zu spüren. In einem Park, unweit des »Yoyogi National Stadiums«, wo während der Olympischen Spiele das Handballturnier ausgetragen wird, dröhnt Musik aus einer Beatbox, Bierdosen stehen auf dem Boden und ein junger Mann singt. Ein paar Meter weiter rollen Skateboards über den Asphalt, kleine Kunststücke werden probiert, ein Teenager hat eine Zigarette lässig im Mundwinkel hängen. Kurz nach Mitternacht sind hier das größte Sportfest der Welt und die Corona-Pandemie kein Thema. Niemand trägt hier eine Maske, abgesehen von ein paar Journalisten, die die Szenerie passieren, weil sie auf dem Weg zurück ins Hotel sind.
Die Jugendlichen im Park sind nach anderthalb Jahren der Einschränkungen nicht mehr bereit, alle Regeln einzuhalten, die die Regierung zur Bekämpfung der Pandemie erlassen hat. In einigen Bars in Tokio werden die Vorgaben ebenfalls ignoriert, die geänderten Öffnungszeiten des Notstandsgesetzes werden einfach ignoriert. Hier und da begründen die Besitzer den Widerstand gegen die staatlichen Vorgaben mit den Olympischen Spielen. »Die Leute sehen die Spiele und wollen auch mehr von ihrem Leben zurück«, sagt beispielsweise Barkeeper Hashi. Das ist in Tokio nicht anders als in Berlin, in New York oder anderswo.
In der »Nippon Budokan«, der historischen Kampfsporthalle in Tokio, ganz in der Nähe des Kaiserpalastes, fließen Tränen. Gerade hat Maria Centracchio durch einen Sieg gegen die Niederländerin Juul Franssen die Bronzemedaille in der Klasse bis 63 Kilogramm gewonnen. Sie weint hemmungslos. Ihre Lippen sind blutig, weil sie einen kleinen Schlag abbekommen hat, aber das spielt keine Rolle. Die 26-Jährige ist glücklich, weil gerade ein Traum in Erfüllung gegangen ist. Eine Medaille bei ihren ersten Olympischen Spielen. »Ich kann das nicht in Worte fassen«, sagt sie in gebrochenem Englisch: »It is unbelievable.« Es ist unglaublich. Wie Centracchio geht es täglich vielen Sportlerinnen und Sportlern, deren Emotionen durch die Diskussion um die Pandemie oder die Tatsache, dass die Wettbewerbe deshalb ohne Zuschauer ausgetragen werden, nicht kleiner geworden sind.
Für die Athleten und Athletinnen sind die Wettkämpfe im Zeichen der Olympischen Ringe immer noch ein Sehnsuchtsort. Für die Judoka, die Ruderer oder die Sportschützinnen bedeuten sie den Höhepunkt der sportlichen Karriere, den Lohn für jahrelanges Training und Verzicht. Für Tennisstar Alexander Zverev sind Wimbledon oder die US Open sportlich noch reizvoller, aber er wurde von der Besonderheit der Spiele übermannt. »Hier spielt man für ein ganzes Land, für alle Sportler hier im Dorf«, sagt der Hamburger, als er die Goldmedaille in den Händen hält. Ein paar Tage vorher sitzt er weinend auf dem Centre Court, nachdem er den Weltranglistenersten Novak Djokovic im Halbfinale besiegt und dadurch eine Medaille sicher hat. Die Faszination der Spiele für die Sportler hat durch die außergewöhnlichen äußeren Umstände nicht gelitten. Das hat sich in Tokio schnell gezeigt.
Hashi steht stattdessen in seiner Bar in Shinjuku hinter dem Tresen und mixt Cocktails für die überwiegend jungen Gäste. An den Tischen wird keine Maske getragen, auf dem Weg zur Toilette schützen sich die meisten Menschen jedoch. Der Barkeeper ist 34 Jahre alt, er verfolgt die Wettbewerbe in den Stadien und Arenen nur am Rande. »Wir sind erfolgreich«, weiß er immerhin mit Blick auf die japanischen Olympioniken zu berichten. Zum Schluss sagt er noch einen interessanten Satz: »Die jungen Leute machen schon seit ein paar Monaten ihr eigenes Ding, sie wollen nicht mehr eingesperrt sein.«
Die Corona-Infektionen in Tokio steigen seit einiger Zeit rasant an, in diesen Tagen werden Höchststände seit Beginn der Pandemie vermeldet. Daran ändert die Vorsicht der Menschen in Tokio nichts. Die überwältigende Mehrheit hält sich an die Vorgaben, hält Abstand und trägt eine Maske. In den Straßenschluchten und den U-Bahnhöfen stellen die Japaner ihre Disziplin unter Beweis. Die Ausbreitung der Deltavariante sorgt in Japan wie im Rest der Welt dennoch für eine neue Welle. Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass Sportler, Journalisten oder Offizielle, die wegen der Olympischen Spiele ins Land gekommen sind, für die Ausbreitung des Virus im größten Ballungsraum der Welt verantwortlich sind. Das räumen auch Kritiker ein, die gegen die Spiele sind. In Tokio stiegen die Infektionen schon in den Tagen vor der Eröffnungsfeier deutlich an.
Nicht wenige waren gegen die Austragung der Spiele, in Tokio gab es und gibt es Vorbehalte. Das war vor der Pandemie bereits so und hat sich durch sie noch einmal verstärkt. Aber die Kritiker sind nicht allein. Sie teilen sich den Platz mit denen, die stolz darauf sind, dass die Olympischen Spiele in ihre Stadt gekommen sind. Bei der Eröffnungsfeier standen Hunderte vor dem Olympiastadion, um sich die Eröffnungsfeier anzuhören. Noch immer kommen sie an die unterschiedlichen Wettkampfstätten und machen Selfies. Sie möchten ein Teil von etwas sein, von dem sie kein Teil sein dürfen.
Den Gästen aus aller Welt schlägt in den Tagen in Tokio eine überwältigende Freundlichkeit entgegen. Die unzähligen freiwilligen Helfer, die Mitarbeiter der Sicherheitsdienste, selbst das Militär, das die Sicherheitschecks vor den Wettkampfstätten überwacht, strahlen Freude darüber aus, mit dabei zu sein und helfen zu können. Peter Rabe ist ein freiwilliger Helfer, er stammt aus Lüneburg, lebt aber seit vielen Jahren in Japan und arbeitet im internationalen Pressezentrum. »Ohne die Pandemie wären hier alle Stadien voll, die Euphorie wäre riesig«, sagt der 60-Jährige. Im japanischen Teil seiner Familie verstehen zwar nicht alle, dass er hilft. Aber: »Die meisten finden es toll und wären auch gerne dabei«, berichtet er.
Für das Internationale Olympische Komitee und die olympische Bewegung ist es ein Glücksfall, dass diese Spiele, die unter dem Eindruck der Pandemie stehen, in Japan stattfinden. Die Organisation ist perfekt, die Abläufe funktionieren vom ersten Tag an. Der enorme Aufwand, der betrieben werden muss, um die Athleten täglich und die Journalisten alle vier Tage auf das Virus zu testen, wird generalstabsmäßig vorbereitet und abgewickelt. Der Einsatz der japanischen Regierung, des lokalen Organisationskomitees und jedes einzelnen Helfers ist beachtlich.
Die Olympischen Spiele 2021 in Tokio werden auch in der Rückschau umstritten bleiben. Sie haben aber gezeigt, dass ihre sportliche Basis von der Pandemie unberührt geblieben ist. Durch das Fehlen der Zuschauer ist der Athlet noch etwas mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Deshalb war es richtig, die Wettbewerbe trotz der weltweiten Krise stattfinden zu lassen. Die Japaner sind zudem perfekte Gastgeber und haben der Welt gezeigt, zu welchen Anstrengungen sie in der Lage sind.
Die Jugendlichen im Park bleiben davon weitgehend unberührt. Sie werden in ein paar Tagen immer noch in der Nacht Skateboard fahren, Musik hören, Bier trinken und rauchen. Die Olympischen Spiele haben ihren Freiheitsdrang nicht ausgelöscht und sie werden ihn auch nicht beenden.
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