Taliban erobern Kundus

Mittlerweile vier Provinzhauptstädte im Norden Afghanistans unter Kontrolle der Islamisten

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Konflikt? Ein Desaster? Ein Bürgerkrieg? Nachdem im Norden Afghanistan die strategisch wichtige Stadt Kundus, in der mehr als zehn Jahre lang deutsche Soldat*innen und Polizist*innen stationiert waren, am vergangenen Wochenende wieder in die Hände der Taliban gefallen ist, ringt die deutsche Politik damit, die Lage zu benennen.

Das Auswärtige Amt sieht eine zunehmende Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan und die Situation entwickle sich »rasant«, zitiert die Deutsche Presseagentur einen Sprecher. »Auch mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen wird derzeit eine Aktualisierung des Asyllageberichts vorbereitet«, heißt es. Der aktuelle Asyllagebericht des Auswärtigen Amts stellt zwar eine stärkere Gefährdung bestimmter Gruppen durch den Vormarsch der Taliban fest, aber keine generelle Gefährdung von Rückkehrern. Er bildet allerdings den Stand im vergangenen Mai ab – also kurz vor dem Beginn des Abzug der ausländischen Truppen.

Lesen Sie auch den Standpunkt »Nicht überrascht« von Daniel Lücking

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), warnte in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vor einem internationalen Desaster und sieht auch die afghanische Hauptstadt Kabul gefährdet. Bereits am Samstag hatte die Botschaft der USA in Kabul US-Bürger*innen dazu aufgerufen, Afghanistan umgehend zu verlassen. Der an der Bundeswehr-Universität in München tätige Verteidigungsexperte Professor Carlo Masala ordnete diese Warnmeldung via Twitter als das afghanische Saigon ein und spielte damit auf den US-Truppenabzug am Ende des Vietnamkrieges 1975 an. Noch ist die US-Militärpräsenz im Land gegeben. Doch konnte auch das Bombardement aus B-52-Bombern die Übernahme von Kundus nicht verhindern. Der Einsatz der US-Kräfte endet noch im August und die Mehrheit der US-Basen ist bereits an die afghanische Armee übergeben.

Innerhalb von drei Tagen fielen vier Provinzhauptstädte im Norden Afghanistans weitgehend kampflos an die Taliban. Aus den besetzten Gebieten wird von Plünderungen von Schulen und öffentlichen Gebäuden berichtet. In Kabul kam es zu Angriffen auf Politiker und afghanisches Sicherheitspersonal. Am Freitag wurde Regierungssprecher Dawa Khan Menapal nach dem Besuch einer Moschee getötet. Am Samstag starb ein Pilot der afghanischen Luftwaffe bei einem Anschlag.

In Kabul tauchen altbekannte Warlords wieder auf. Lesen Sie dazu die Personalie »Der Opportunist« von Cyrus Salimi-Asl.

»Nein, der Einsatz in Afghanistan war kein Erfolg!«, kommentierte via Twitter der Vorsitzende der Linksfraktion, Dietmar Bartsch. »Zehntausende zivile Opfer, 59 tote Bundeswehrsoldaten, 13 Milliarden Kosten, ein kopfloser Abzug und nun stürmen die Taliban fünf Wochen nach dem Bundeswehrabzug Kundus. Mehr als bitter.« Das »Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte« mahnte die Aufnahmebereitschaft der Bundesregierung an, die immer noch zögerlich ist. Insgesamt seien 2000 Visa-Prozesse noch nicht begonnen worden und es gebe einen Bedarf von weiteren rund 4000 Verfahren in Kreisen der ehemaligen Helfer*innen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.