Unsere Körper sind neoliberal

DER KHAN-Report: Früher war Urlaub das freudige Wiedersehen der Familie, heute knackt der Kiefer

  • Ayesha Khan
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin gerade etwas krank. Und das liegt daran, dass ich Urlaub habe. Vor einigen Jahren ist es mir zum ersten Mal aufgefallen, dass ich immer krank werde, wenn ich Urlaub habe. Als ich mich mit einer Freundin darüber unterhielt, erklärte sie mir, dass unsere Körper neoliberal seien. Sie müssten arbeiten, um zu funktionieren. Oder umgekehrt. Für das Krankwerden im Urlaub gibt es sogar einen Fachausdruck: Leisure Sickness. Und es gibt Studien dazu. Wir bilden uns das also nicht ein. Es hat was mit Hormonen, Stress und dem Immunsystem zu tun.

Als Kind und Jugendliche bin ich sehr gerne gereist und war dabei immer fit. Wir sind mindestens einmal im Jahr mit dem Auto zu meinen Großeltern nach London gefahren. Highlight war jedes Mal die Fähre zwischen Calais und Dover. Obwohl wir Fähren gewohnt waren. Wir fuhren ja auch regelmäßig zu unseren Verwandten nach Kopenhagen.
Reisen mit dem Auto wurde zu einer Tradition, als mein Vater seinen ersten Mercedes kaufte. Es war egal, wie oft die Polizei oder der Zoll uns rauswinkten. Das Auto war unser Schatz. Verwandte riefen an und fragten, wann sie das schöne Auto zu sehen bekämen. Wann sie mit meinem Vater eine Spritztour machen könnten?

Wir wohnten vielleicht noch in dieser 2,5-Zimmer-Wohnung in einem Backsteinhaus in Barmbek-Nord, aber der Mercedes machte meinen Vater zum Liebling der Familie – und zu einem sehr reichen Mann. Dabei hatte er gar nicht so viel davon. Er fuhr damit zur Arbeit und zurück. Und da er abends arbeitete und tagsüber schlief, hatten auch wir wenig von dem Wagen. Aber immerhin hatten wir einen. Wir waren mobil. Die Welt stand uns offen. Okay, zumindest Europa.

Manchmal flogen wir auch in den Urlaub. Das wurde dann lange geplant. Einige Monate im Voraus. Dann wurde eingekauft. Geschenke für Tanten und Onkel. Schokolade. Snacks. Putzlappen, die es anscheinend nur in Deutschland gab. Alles normale Dinge, die man im Urlaubskoffer von migra Familien findet. By the way, ich schreibe vielleicht Urlaub, aber in Wirklichkeit ging man für ein bis zwei Wochen zu den Verwandten. Kein Hotel. Selten Strand. Dafür aber Familienfeiern und gutes Essen.

Andere Menschen finden es immer wieder »spannend«, wenn ich von Familienangehörigen und Verwandten spreche, die in Kanada leben. Oder in Südafrika. Oder in Australien. Dass es das Ergebnis von Kolonialismus, Imperialismus, Vertreibung, Verfolgung oder Flucht sein könnte, wird ihnen erst bewusst, wenn ich es anspreche.

Aber ja, diese Wiedersehen mit der Familie, sie waren schon Urlaub. Urlaub, das waren auch diese Momente, wenn alle für die Hochzeit der Cousine angereist kamen, um auf dünnen Gästematratzen mit elf Menschen im Wohnzimmer zu schlafen. Urlaub, das war, wenn wir uns nicht entscheiden konnten, ob wir mit den kleinen Geschwistern ins Freibad gehen oder lieber ins Kino. Damals tat nach zwei Wochen nur der Abschied von den Cousinen und Cousins weh.

Beim Thema Schmerz meldet sich heute eher mein Körper. Mein Nacken ist verspannt. Ich habe leichte Kopfschmerzen. Der Kiefer knackt – da war ja auch was mit Zähneknirschen. Ich habe deshalb eine Liste gemacht. Sie soll mir helfen, im Urlaub zu entspannen: Dreimal die Woche ins Freibad. Einmal zur Massage. Ein Hörbuch hören. Viel Fahrrad fahren und gutes Essen. Ab und zu kann man auch Freund*innen treffen. Aber nicht übertreiben, es ist ja schließlich immer noch Pandemie. Ob das meinen neoliberalen Körper wieder gesund macht? Wir wissen es nicht. Ob es antikapitalistischer Widerstand ist? Eher nicht. Aber ich werde es trotzdem für uns ausprobieren. Schöne Ferien allerseits!

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