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Ende eines Überholvorgangs
Die Abriegelung der DDR-Grenze Richtung Westen hatte mit der internationalen Konfrontation und mit internen Problemen der DDR zu tun
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!« Kaum ein Zitat der Weltgeschichte ist so häufig kolportiert worden wie diese Worte des DDR-Staats- und Parteichefs Walter Ulbricht. Die Grenzschließung am 13. August 1961 war wesentlich mit verursacht worden durch die innere Krise der DDR. Die Zielsetzungen des V. Parteitages der SED 1958 und des Siebenjahrplanes bis 1965 erwiesen sich bald als viel zu hochgesteckt.
Die »Ökonomische Hauptaufgabe«, die Bundesrepublik im Konsum zu überholen, erwies sich als irreal. SED-Chef Walter Ulbricht, der seine Kritiker in der Parteiführung inzwischen ausgeschaltet hatte, unterstützte den von Subjektivismus geprägten Kurs des KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chrustschtschow. Planungstermine wurden willkürlich vorverlegt und damit die wirtschaftliche Leistung des Landes überfordert. Dazu zählte der frühere Abschluss der Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften (LPG) schon im April 1960; laut Siebenjahrplan war dafür ein Zeitraum bis 1965 vorgesehen.
In der Folge kam es zu einem Rückgang der Bruttoproduktion in der Landwirtschaft unter das Niveau von 1958 und zu einer enormen Anspannung in der Versorgungssituation. In einigen Bezirken der DDR wurden Hamsterkäufe getätigt, vor allem von Butter. Notdürftige Abhilfe versuchte man mit Einführung von Kundenlisten zu schaffen.
Betroffen von subjektiven Entscheidungen war auch die industrielle Produktion. Der in Eisenach fabrizierte PKW »Wartburg« musste zur Stabilisierung der Landwirtschaft exportiert werden, stand also der einheimischen Bevölkerung in noch geringerer Stückzahl zur Verfügung. Die überstürzte Einführung der polytechnischen Bildung an den allgemeinbildenden Schulen ab September 1958 mit dem Ziel, dass 80 Prozent der Schüler einen Zehnklassenabschluss erlangen, wirkte sich auf den an sich schon angespannten Arbeitsmarkt aus; fast zwei Altersjahrgänge standen der Produktion erst einmal nicht zur Verfügung. Im Übergang vom zweiten zum dritten Quartal 1960 zeichnete sich ab, dass die DDR-Volkswirtschaft, die gerade noch zweistellige Zuwachsraten hatte, völlig aus den Fugen geriet. Die Zahl der Republikfluchten erreichte Rekordmarken wie 1953. Das Land drohte auszubluten.
Das knapp 200 Kilometer von der Grenze der Bundesrepublik entfernte, inmitten der DDR liegende Westberlin hingegen hatte sich unter der Oberhoheit der drei Westmächte rasch vom Krieg erholt und sich zu einem prosperierenden Gemeinwesen entwickelt. Über die strategischen Erwägungen des Westens äußerte der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy am 25. Juli 1961: »Westberlin spielt eine vielseitige Rolle. Es ist mehr als ein Schaufenster der Freiheit – ein Symbol, eine Insel der Freiheit inmitten der kommunistischen Flut. Es ist noch weit mehr als ein Bindeglied der Hoffnung zur Freien Welt – ein Leuchtfeuer der Hoffnung hinter dem Eisernen Vorhang und ein Schlupfloch für die Flüchtlinge. Westberlin ist all das.« Bürgermeister Willy Brandt fasste sich knapper: »Berlin ist ein Pfahl im Fleisch der sowjetischen Politik.«
Als militärische Festung besaß Westberlin keine Bedeutung, dafür umso mehr im psychologischen Krieg. Obwohl der Westen davon ausging, dass Ulbrichts Überholvorhaben unrealistisch war, wurde massiv auf die Schädigung der DDR hingearbeitet. Vor allem technische Intelligenz und junge Facharbeiter sollten abgeworben werden. Abwanderung erfolgte aber auch spontan aufgrund der ökonomischen Sogwirkung des »Wirtschaftswunders« in der Bundesrepublik. Die DDR verlor massenweise Ärzte. Die gesundheitliche Versorgung konnte Ende 50er Jahre in der DDR nur noch mit Hilfe von Personal aus Bulgarien aufrechterhalten werden. Eine besondere Rolle spielten die Wechselstuben in Westberlin, die eine Mark West für vier bis fünf Mark Ost anboten. Ostberliner und DDR-Bürger aus den Randgebieten nahmen in Westberlin Arbeit auf. Im August 1961 waren bei der Westberliner Lohnausgleichskasse rund 63 000 Grenzgänger registriert. Sie genossen die niedrigen Mieten und subventionierten Preise für Lebensmittel und Konsumgüter in der DDR und hatten durch den Umtausch ihres Westgeldeinkommens einen höheren Lebensstandard als ihre Mitbürger im Osten.
Ein weiterer Tiefschlag gegen die DDR erfolgte am 30. September 1960. Bonn kündigte das Handelsabkommen von 1951. Formaler Anlass waren die Proteste der DDR-Regierung und angeordnete Sondermaßnahmen für das Betreten Ostberlins im Kontext mit den Treffen von Landsmannschaften der Sudetendeutschen, Ostpreußen, Pommern und Schlesier in Westberlin. Die Aufkündigung des Handelsabkommens stellte mit einem Mal zehn Prozent der Gesamtimporte der DDR in Frage.
Der wirtschaftliche Kollaps schien unvermeidbar. Zwar musste die einseitige Vertragsaufkündigung seitens der bundesdeutschen Regierung gegen Jahresende zurückgenommen werden, da sie auch Grundinteressen Westberlins berührte, doch der Lebensnerv der DDR war empfindlich getroffen. Eine Besonderheit Westberlins, die sich aus dessen geografischer Lage ergab, war unter anderem die Verletzlichkeit seiner Verkehrswege. Durch die nunmehrige Einführung einer »Widerrufsklausel« seitens Bonn blieb jedoch die allgemeine Verunsicherung der DDR-Wirtschaft aktuell. Wer eine Mauer quer durch Berlin nicht wollte, hätte Destabilisierung vermeiden müssen, statt sie weiter zu befördern.
Nicht von ungefähr nahm die DDR-Führung den Westteil Berlins als »Frontstadt« wahr. Ohne fremde Hilfe schien es keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu geben. So nutzte die SED-Führung die im November 1960 in Moskau tagende Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien, um Solidarität einzufordern. Sie wurde ihr zugesagt. Es folgten entsprechende Beschlüsse des Warschauer Vertrages, des östlichen Militärbündnisses.
Bis Juli 1961 war jedoch noch völlig offen, wie die eklatante Berlin-Krise konkret zu lösen wäre. Anfang August 1961 erfolgte die Entscheidung der Abriegelung der offenen Grenze durch Stacheldrahtverhaue, etwas später ergänzt beziehungsweise ersetzt durch eine Betonmauer mitten durch Berlin. Ulbrichts bekanntester Satz auf der internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 – »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten ...« – kann also nicht als die größte Lüge der Weltgeschichte interpretiert werden, wie das die Medien gerne tun. Zu dem Zeitpunkt, als er dies sagte, waren die Entscheidungen noch nicht gefällt, die zum Bau der Berliner Mauer führten.
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