Mangelndes Gefahrenbewusstsein

Hochwasserwarnungen an Ahr und Erft erreichten Menschen vor Ort zu spät und ohne konkrete Anweisungen

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Angesichts von beinahe 200 Toten durch die Sturzfluten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben die Aussagen zweier Forschender von der britischen Universität Reading Brisanz: Die hatten in Interviews erklärt, dass das Europäische Flutwarnsystem (EFAS) bereits Tage vor dem Ereignis gewarnt habe, dass es in den betroffenen Regionen zu extremem Hochwasser kommen könne. Bekannt ist von früheren Flutkatas-trophen, dass bereits bei einer Vorwarnzeit von eineinhalb Stunden Todesopfer meist vermieden werden können. Dazu müssen aber die Warnung und konkrete Handlungsanweisungen die Menschen im Gefahrengebiet auch erreichen.

Inzwischen sind die Frühwarnkarten der EFAS, die an 141 Institutionen, darunter das Landesamt für Umwelt in Rheinland-Pfalz, verschickt wurden, auch öffentlich verfügbar. Der Meteorologe Bernhard Mühr, externer wissenschaftlicher Mitarbeiter des Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology am Karlsruher Institut für Technologie, bestätigte am Freitag, dass bereits fünf Tage vor den Ereignissen das »Potenzial für extreme Niederschlagsmengen erkennbar war«. Er sei erschrocken gewesen, dass da für ein mehrere Tausend Quadratkilometer großes Gebiet derart hohe Niederschlagsmengen von den Modellen vorhergesagt worden seien. Nach den Erfahrungen der Hochwasser an Elbe und Donau im Jahre 2002 war nicht nur EFAS aufgebaut worden, es wurden auch Gefahrenkarten in den einzelnen Ländern eingeführt. Doch die Risikoforscherin Annegret Thieken von der Universität Potsdam bemängelt, dass diese Karten bei weitem nicht an das heranreichten, was am 14./15. Juli an Ahr, Rur und Erft passiert ist. Dabei sollten diese Karten auch Hochwasserereignisse berücksichtigen, die nur einmal alle 100 oder gar 200 Jahre auftreten.

Auch Thieken verweist darauf, dass auf den Warnkarten der EFAS, die den Hochwasserzentralen der Länder zur Verfügung gestellt wurden, die dann betroffenen Flussgebiete bereits am 12. Juli violett eingezeichnet waren - der Farbe für die höchste Alarmstufe. Der Hydrologe Jörg Dietrich von der Universität Hannover ergänzt, dass auch der Scheitel des Hochwassers an der Ahr zeitlich ziemlich exakt vorhergesagt wurde.

Thieken gibt zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt eine weit größere Zahl an Flussgebieten auf den EFAS-Karten violett markiert war, als dann später tatsächlich überschwemmt wurde. Deshalb müssten diese Prognosen in den jeweiligen Bundesländern präzisiert werden. Denn die Hochwasserzentralen der Länder besitzen eigene Modelle für die Flüsse auf ihrem Gebiet. In diese Modelle fließen neben der konkreten Topographie auch Daten von weiter zurückliegenden Ereignissen ein.

Ein Mangel der EFAS-Warnungen liegt darin, dass sie nur auf einen Zeitrahmen von 20 Jahren zurückblicken. Wenn also die EFAS vor einem Ereignis warnt, das nur einmal in 20 Jahren vorkommt, ist das der Extremfall. Es kann aber durchaus ein Jahrhundert- oder gar Jahrtausendhochwasser sein. Deshalb fordert die Potsdamer Wissenschaftlerin eine Ausweitung der Datengrundlage. Auch seltene frühere Katastrophen gehören für ihn in die Planungsunterlagen.

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In der Deutung der Hochwasserwarnungen vor Ort liegt für Annegret Thieken auch der entscheidende Schwachpunkt des derzeitigen Katastrophenwarnsystems: Das dazu nötige Fachwissen vor Ort fehle. Das Hochwasser im Westen Deutschlands war »eine schallende Ohrfeige für das Risikomanagement«, sagt sie. Es reiche eben nicht, wenn irgendwo eine Sirene heult oder eine App vor Starkregen warnt. Mit der Warnung müsse eine klare Handlungsanweisung einhergehen, was jetzt zu tun ist. In akuten Fällen sei es nötig, rechtzeitig von Haus zu Haus zu gehen, um sicherzustellen, dass alle erreicht werden.

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Der Meteorologe Mühr verweist darauf, dass angesichts der unzähligen Unwetterwarnungen, die die Menschen inzwischen auf ihren Smartphones erhalten, wirklich ernste Ereignisse unterzugehen drohen. Es dürfe nicht sein, dass die Betroffenen vor Ort erst noch interpretieren müssten, was mit der Warnung gemeint ist. Thieken wünscht sich, dass in solchen Situationen alle Wege zur konkreten Information der Bevölkerung genutzt werden, dass also die Medien auch informieren, wie man sich in dieser Situation am besten verhält.

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Für die Gebiete an der unteren Ahr jedenfalls, so Dietrich, wäre eine rechtzeitige Evakuierung möglich gewesen. Denn bereits um 15 Uhr war am 14. Juli bekannt, dass am Oberlauf der langjährige Pegel deutlich überschritten wurde, dass also um 22 Uhr der Hochwasserscheitel in Sinzig an der Mündung in den Rhein ankommen würde. Auch das in Rheinland-Pfalz zuständige Landesamt für Umwelt hatte am späten Nachmittag des 14. Juli die Hochwasser-Warnstufe für die Ahrregion auf die höchste Warnstufe - violett - gesetzt. Warum trotz dieser Information der Landkreis erst um 23.09 Uhr Katastrophenalarm auslöste, wird vermutlich erst im Rahmen der begonnenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) endgültig geklärt werden.

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