- Politik
- Joe Biden
Lieber ein Ende mit Schrecken
US-Präsident Biden stellt sich mit einer trotzigen Rede zum Afghanistan-Abzug seinen Kritikern
»95 Prozent der Amerikaner*innen werden zustimmen zu dem, was Joe Biden in dieser Rede gesagt hat, 95 Prozent der Presse, die darüber berichtet, wird nicht zustimmen.« So fasste MSNBC-Moderatorin Nicole Wallace die Kluft zwischen Bevölkerung und außenpolitischem Establishment in Washington DC zusammen. Wallace, die sich mittlerweile als »selbsthassende Ex-Republikanerin bezeichnet«, ist als ehemalige Pressesprecherin von Ex-Präsident George Bush Teil des parteiübergreifenden US-Außenpolitik-Establishments, jenem Geflecht aus Regierungsmitarbeitern, Thinktanks und Journalisten, das zwar taktische Differenzen hat, aber grundsätzlich einig darin ist, eine Politik geopolitischer Dominanz der USA zu vertreten.
Doch der US-Präsident richtete die Rede, die er am Montagnachmittag (Ortszeit) in Washington hielt, nicht an dieses Establishment und auch nicht an die internationale Gemeinschaft oder die afghanischen Hilfskräfte und die Reste der Zivilgesellschaft in Kabul. Adressat war die einheimische Bevölkerung. Biden kam fast komplett ohne diplomatische Floskeln aus, war rau, geradezu brutal. Er wählte die Vorwärtsverteidigung. Afghanistan werde nun sich selbst überlassen. Er vertrete nur »amerikanische Interessen«. Biden setzt damit seine opportunistische Politik fort, nur politische Maßnahmen umzusetzen, die große Mehrheiten in Umfragen haben. Das war schon bei seinem Umgang mit der Coronakrise und dem geplanten Infrastrukturpaket zu beobachten.
»Es gibt nie einen guten Zeitpunkt US-Streitkräfte abzuziehen, darum sind wir ja immer noch da«, erklärte ein über jahrelange Lobbykampagnen der eigenen Generäle für größere und längere Truppenpräsenz sichtbar verärgerter Biden. Er wolle die Öffentlichkeit nicht länger täuschen, indem er behaupte, dass »nur ein bisschen länger bleiben einen großen Unterschied macht«.
Die Rede war auch ein Angriff auf das neokonservative Establishment, das schon unter Donald Trump viel Terrain verloren hat - und auf dessen Glauben an den weltweiten Demokratieexport: »Unsere Mission in Afghanistan war nie Nation Building.« Bei seinem Amtsantritt habe er nur die Wahl gehabt, entweder den von Trump ausgehandelten Abzugsplan bis Ende Mai aus logistischen Gründen etwas zu verzögern oder den Krieg mit der Entsendung Tausender Soldaten »eskalieren« zu müssen, so Biden. Menschenrechte müssten im Zentrum der Außenpolitik stehen. Durchgesetzt werden müssten sie aber mit diplomatischen Mitteln und nicht durch »endlose Militäreinsätze«. Die Kräfte des Landes will Biden auf die »Konkurrenz« mit den Hauptgegnern China und Russland und den weltweiten Anti-Terrorkampf konzentrieren.
Mehrere Umfragen der letzten Monate zeigen etwa 70 Prozent Zustimmung in der US-Bevölkerung zum Rückzug aus Afghanistan. Mit Aussagen wie jener über »endlose Reihen von Grabsteinen« am Militärfriedhof Arlington zielen auf die Normalo-Amerikaner, deren Mehrheit den Truppenabzug nach 20 Jahren begrüßt. Laut einer Umfrage aus dem Februar sehen nur 20 Prozent der US-Bürger*innen die weltweite Förderung von Demokratie nicht als wichtiges Ziel der US-Politik. Eine von Freitag bis Montag durchgeführte Morning Consult/Politico-Umfrage zeigt dagegen den Einfluss der Bilder aus Kabul und die Kritik von Republikanern, einigen Demokratenabgeordneten und Topjournalisten am »verbockten« Abzug der US-Truppen. Nicht mehr 69 Prozent wie im April, sondern nur noch 49 Prozent unterstützen ihn.
In seiner Rede nannte Biden die chaotischen Szenen in Kabul zwar »herzzerreißend«, gab die Schuld dafür aber der afghanischen Armee und Eliten des Landes am Hindukusch: »Amerikanische Truppen sollten nicht in einem Krieg sterben, den afghanische Truppen nicht gewillt sind, selbst zu kämpfen.« Auch wenn die Äußerungen Bidens zum Chaos beim Abzug (»von der Schnelligkeit überrascht«) und zur späten Evakuierung (»Hilfskräfte glaubten an Zukunft«, »Regierung wollte Sogwirkung verhindern«) mindestens zweifelhaft sind, scheint Biden in diesem Punkt den Aufrufen von US-Medien-Eliten und Außenpolitikern zur Evakuierung möglichst vieler Helfer*innen der US-Armee folgen zu wollen.
Nachdem rund 6000 erneut eingeflogene US-Soldaten den Flugplatz in Kabul gesichert und die Flugsicherheit übernommen haben, könnten rund 5000 Menschen pro Tag ausgeflogen werden, erklärte das US-Verteidigungsminsterium am Montag. Bereits jetzt sind 2000 afghanische Helfer der US-Armee im Armeestützpunkt Fort Lee in Virginia untergebracht worden. Die Evakuierung solle bis Ende August andauern. 19 000 bis 30 000 Afghanen könnten in die USA geflogen werden.
Untergebracht werden könnten sie zunächst auf Armeestützpunkten in Texas und im Bundesstaat Wisconsin. Dazu soll jetzt ein per Biden-Memorandum von Montagnacht flexibilisiertes Spezialvisa-System genutzt werden - eine Kehrtwende. Noch im Juli hatte Biden erklärt, die Visaanträge von Armeeübersetzern in den USA zu bearbeiten sei nicht möglich. Die Parteilinke der Demokraten macht derweil Druck auf Biden, noch mehr Menschen aufzunehmen: »Lasst den bürokratischen Bullshit aus, setzt die Leute einfach in Flieger. Wir sind ein 330-Millionen-Land, wir können mit Leichtigkeit 100 000 Leute aufnehmen«, erklärte der Demokraten-Kongressabgeordnete und Irak-Kriegsveteran Ruben Gallego auf Twitter.
Lesen Sie auch: Fehlender Schutz für Ortskräfte - Daniel Lücking zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan
Übrigens: Für die US-Rüstungsindustrie waren 20 Jahre Afghanistan-Krieg eine spektakuläre Erfolgsgeschichte. Daran erinnert ein aktueller Artikel des Enthüllungsportals »The Intercept«. Die Aktien der fünf größten Auftragnehmer des US-Militärs haben seit Beginn des Afghanistan-Kriegs 58 Prozent besser performt als der US-Aktienmarkt. Wer 2001 rund 10 000 Dollar in Papiere von Boeing, Raytheon, Lockheed Martin, Northrop Grumman, and General Dynamics investiert hat und alle ausgezahlten Dividenden reinvestiert hat, hat heute ein Aktienportfolio im Wert von 97 000 Dollar.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.