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Plötzlich - »der Afghane«
Emran Feroz über traumatische Kindheitserinnerungen und 20 Jahre »War on Terror«
Im April 2021 verkündete US-Präsident Joe Biden, die verbliebenen 3500 Truppen in Afghanistan bis zum 11. September abziehen zu wollen. Damit beschritt er den Pfad seines überaus umstrittenen Amtsvorgängers Donald Trump, der bereits im Jahr zuvor mit dem Truppenabzug begann. Der längste Krieg der Geschichte der Vereinigten Staaten soll, so scheint es, beendet werden - zumindest aus amerikanischer Sicht. Für die meisten Afghanen war Washingtons 20-jährige Intervention lediglich eine Fortführung der Kriege und Konflikte, die in ihrem Land bereits seit dem Ende der 1970er Jahre andauern. Das Interesse dafür war allerdings bis zum damaligen Zeitpunkt äußerst gering oder kaum vorhanden. Viele Menschen in westlichen Staaten konnten mit Afghanistan wenig bis gar nichts anfangen. Das Land klang für viele Ohren exotisch und mystisch. Es hatte etwas Unbekanntes. Der eine oder andere wusste von den Bergen des Hindukusch und dass dort irgendwie Krieg herrscht. Doch damit hatte man selbst nichts zu tun.
All dies änderte sich schlagartig mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Terroristen griffen das World Trade Center in New York sowie das Pentagon in Washington an und töteten fast 3000 Menschen. Als Folge davon erklärten die Vereinigten Staaten, damals angeführt von George W. Bush, Afghanistan, eines der ärmsten Länder der Welt, zum Feind, der die »freie Welt« angegriffen habe - und das, obwohl keiner der Täter Afghane war. Die Kriegstrommel wurde geschlagen und es war praktisch unmöglich, ihr zu entkommen.
Am 11. September 2001 war ich neun Jahre alt und lebte in Innsbruck, meinem Geburtsort. Rund zwei Jahre zuvor hatten meine Familie und ich die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Jenseits der Tiroler Alpen hatte ich noch nicht viel gesehen und über meine afghanische Heimat wusste ich praktisch nichts. Als ich an jenem Tag nach Hause kam und mich auf das damals übliche Zeichentrickprogramm im Fernsehen freute, wurde ich enttäuscht. Meine Eltern starrten gebannt auf das Gerät, während auf allen Sendern ein Sonderprogramm lief. Man sah die einstürzenden Türme in New York und panische Reporter, die live zugeschaltet waren. Die Berichterstattung hörte nicht auf und meine Eltern machten einen besorgten Eindruck. Dann wurde das Bild eines bärtigen, Turban tragenden Mannes gezeigt.
Mein Wissen über Afghanistan war beschränkt, doch ich wusste, dass Osama bin Laden kein afghanischer Name war. Allerdings sollte er in irgendeiner Art und Weise mit den Taliban zu tun haben, die zum damaligen Zeitpunkt über weite Teile Afghanistans herrschten. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr mich diese zwei Begriffe, »bin Laden« und »Taliban«, in den darauffolgenden Tagen und Jahren verfolgen würden. Ab dem 12. September 2001 war ich in der Schule plötzlich »der Afghane«, mit dem zuvor selbst die Türken, Bosniaken oder Serben nichts anfangen konnten.
»Emran, ihr seid doch aus Afghanistan. Weißt du, warum die das gemacht haben?«, fragte mich eine Grundschullehrerin vor versammelter Klasse. Ich nahm es ihr damals nicht übel. »Der hat irgendwie mit Afghanistan zu tun. Er ist zwar ein Kind, aber vielleicht hat er eine Antwort«. Vielleicht dachte sie sich so etwas. Stotternd versuchte ich, etwas zu sagen, ja, etwas zu erklären. »Bin Laden ist aber kein Afghane … Das haben meine Eltern gesagt …«, brachte ich dann heraus. Rückblickend denke ich, dass das wahrscheinlich der Anfangspunkt einer langen Entwicklung war, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin: Vom damaligen Tag an war ich der ewige Erklärer des Krieges in meiner Heimat.
In der Pause ging es weiter mit dem Afghanistan-Thema. Meine Mitschüler meinten, dass mein Land bombardiert werden müsse und dass »wir es verdient hätten«. Der »Dritte Weltkrieg«, Atombombenabwürfe und allerlei mögliche Schreckensszenarien wurden an die Wand gemalt. »Die machen euch und die Taliban platt!«, hörte ich des Öfteren. Hinzu kamen Kommentare wie: »Ist Osama bin Laden dein Onkel?« Heute weiß ich, dass ich damals nicht der Einzige war, dem es so erging. In der gesamten westlichen Welt begann eine Welle der Islamfeindlichkeit, und viele Kinder wurden in ihren Schulen aufgrund der Tatsache, dass sie Muslime waren oder als solche gesehen wurden, drangsaliert, schikaniert und gemobbt …
Meine Mitschüler waren plötzlich kriegsgeil und rassistisch. Doch letzten Endes handelte es sich nur um Kinder, und die imitieren meist die Erwachsenen. Die »Unwissenden und Ignoranten«, mit denen ich mich bis heute auseinandersetze, sind in erster Linie Historiker, Feuilletonisten, Journalisten und Politiker. In meiner Familie hingegen stieg ganz real die Angst vor einem Angriff auf Afghanistan durch die USA, der sich nun immer deutlicher abzeichnete. Plötzlich machte man sich nicht nur um Verwandte vor Ort Sorgen, sondern auch um wildfremde Landsleute, die durch mögliche Bombardements getötet werden könnten. Für mich war das ein neuartiges, besorgniserregendes Gefühl. »Mein Land wird bombardiert«, dachte ich mir immer und immer wieder. Es gab Tage, an denen mich der Stress erdrückte. Während die Menschen um mich herum nach Vergeltung lechzten und den Krieg regelrecht herbeisehnten, wurde ich unruhiger und nervöser.
Tatsächlich war dies nicht nur in meinem persönlichen Umfeld der Fall, sondern in vielen westlichen Ländern. Kaum jemand stellte einen Angriff auf Afghanistan in Frage. Auch die höchsten politischen Institutionen der Welt, etwa die Vereinten Nationen, segneten jenen Krieg, der seinerzeit von George W. Bush als »Kreuzzug« bezeichnet wurde, ab. Der illegale Angriff auf ein Land und die kollektive Bestrafung eines gesamten Volkes, das mit den Anschlägen in den Vereinigten Staaten nichts zu tun hatte, wurden einfach für legal erklärt. Der Nato-Bündnisfall trat in Kraft, und für viele Menschen, nicht nur Politiker und Militärs, war das anscheinend die normalste Sache der Welt. Im US-Repräsentantenhaus stimmte lediglich eine Abgeordnete, Barbara Lee aus dem Bundesstaat Kalifornien, gegen den Kriegseinsatz. »Ich will nicht erleben, dass diese Spirale außer Kontrolle gerät. Falls wir voreilig zurückschlagen, besteht die große Gefahr, dass Frauen, Kinder und andere Nichtkombattanten ins Kreuzfeuer geraten«, sagte sie damals. Außerdem warnte Lee vor einem Krieg »mit offenem Ende« und »ohne Exit-Strategie«. Doch sie wurde verhöhnt, verschmäht und als Terrorsympathisantin - ein Begriff, der in den darauffolgenden Jahren inflationär gebraucht wurde - abgestempelt.
Am 7. Oktober 2001 begann der längste Krieg der amerikanischen Geschichte. Zum damaligen Zeitpunkt wusste das natürlich noch niemand. Bomben und erstmals auch bewaffnete Drohnen kamen im gesamten Land zum Einsatz. Am Boden verbündeten sich US-Spezialeinheiten mit verschiedenen afghanischen Warlords, Drogenbaronen und allerlei anderen fragwürdigen Akteuren, deren Biografien bereits auf den ersten Blick deutlich machten, dass es Washington und seinen Verbündeten weder um Menschenrechte noch um Demokratie ging. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Taliban-Regime zu Fall gebracht. Selbst noch Jahre später behauptete ZDF-Frontmann Claus Kleber, dass »die Afghanen« sich über die amerikanische Intervention gefreut hätten. Kleber meinte, derartige Reaktionen in Kabul erlebt zu haben, und wollte damit gleichzeitig jene in die Schranken weisen, die den Nato-Einsatz kritisierten.
Im Dezember 2009, zwei Monate, nachdem auf Befehl des Bundeswehrobersts Georg Klein über 150 Zivilisten durch einen Luftangriff in der nördlichen Kunduz-Provinz getötet wurden, behauptete ZDF-Korrespondent Hans-Ulrich Gack, dass die Bundeswehr »zu sanft« vorgehen würde und »viele Afghanen« ein härteres Vorgehen begrüßen würden. Damit schloss sich Gack dem politischen Neusprech Washingtons und anderer Kriegsparteien an. Anstatt dieses als Journalist zu hinterfragen, verbreitete er es mit Eifer, etwa indem er den korrupten Polizeichef der Provinz, der von der Nato installiert wurde, zitierte und meinte, man müsse die Afghanen »auf die Linie der Bundeswehr und der Bundesregierung« bringen.
Journalisten wie Kleber oder Gack, die von Afghanistan praktisch nichts wussten und doch stets mit ihrem Halbwissen prahlten, waren letztendlich wohl auch einer der Gründe, warum ich irgendwann selbst zur Schreibfeder gegriffen habe und Kriegsreporter geworden bin. Die westliche Kriegsberichterstattung hat mich meist frustriert - nicht nur in Sachen Afghanistan. Oftmals war sie geprägt von Unwissen oder rassistischen und orientalistischen Stereotypen. Allein schon von »den Afghanen« zu sprechen, offenbart große Ignoranz, denn die verschiedenen Gruppen, die im Gebiet des heutigen Afghanistan leben, sind überaus heterogen. Dennoch glauben viele westliche Journalisten, aus ihren Beobachtungen in den urbanen Ballungszentren wie Kabul allgemeingültige Rückschlüsse ziehen zu können. Hinzu kommen sprachliche und kulturelle Barrieren, die nicht nur von Kleber, sondern von vielen anderen renommierten Journalisten westlicher Medien kaum durchbrochen wurden …
Oftmals wird versucht, die Gewalt zu »afghanisieren«: Wir, sprich: der Westen, haben mit alldem nichts zu tun. Wir wollen nur helfen, doch die Barbaren zerfleischen sich untereinander. Dieses Narrativ wird konsequent durchgedrückt und immer wieder neu aufgerollt. Die Opfer westlicher Gewalt werden stets als Kollateralschäden dargestellt, die man eigentlich nicht töten wollte. Auch hierfür wird meist die Gegenseite verantwortlich gemacht. Man spricht von »menschlichen Schutzschildern« oder findet irgendeine andere Rechtfertigung für das erneute Massaker. Auch hierbei handelt es sich um keine neue Entwicklung.
Wer die Berichte von britischen Kolonialisten, die einst Afghanistan erobern wollten, liest, wird oftmals feststellen, dass sich diese kaum von dem unterscheiden, was einige renommierte Medien bis heute über das Land produzieren.
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem am 23. August erscheinenden Buch von Emran Feroz: »Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror« (Westend-Verlag, 224 S., br., 18 €.).
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