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Britische Opposition will nach Versagen in Afghanistan Konsequenzen sehen
Afghanistan-Debakel und Versagen auf höchster Ebene bringen britische Regierung unter Druck
Bei seinem ersten Auftritt im Unterhaus seit vier Wochen war Boris Johnson von Beginn an in der Defensive. Die kurzfristig anberaumte Debatte am Mittwoch zur Krise in Afghanistan wurde von den Parlamentariern in allen Parteien genutzt, um ihrer Wut und Enttäuschung über die Regierung Luft zu verschaffen. Der Premierminister konnte kaum zwei Minuten am Stück sprechen, bevor er von aufgebrachten Abgeordneten unterbrochen wurde: Sie forderten Schutz für Flüchtlinge und afghanische Helferinnen und Helfer, und sie wollten wissen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Taliban mit so atemberaubender Geschwindigkeit zurück an die Macht gelangten.
Großbritannien war an der Nato-Mission in Afghanistan führend beteiligt. Insgesamt waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten über 150 000 britische Soldaten und Militärangehörige im Einsatz am Hindukusch; die eigentliche Militärmission wurde 2014 beendet. Der Krieg forderte 457 britische Todesopfer, über 2000 wurden verletzt.
Dass die afghanische Regierung nach dem Rückzug der Truppen so schnell kollabierte und das Land zurück in die Hände der Taliban fiel, schockierte das Land und warf Fragen über den Sinn der Mission auf. Johnson versuchte den Entscheid, alle Truppen abzuziehen, zu verteidigen: »Der Westen konnte die von den USA angeführte Mission ohne amerikanische Macht nicht weiterführen«, sagte er im Unterhaus. Sie sei »als Unterstützung Amerikas konzipiert und ausgeführt worden«, so Johnson.
Aber viele seiner Parteikollegen von den konservativen Tories konnte er damit nicht überzeugen. Seine Vorgängerin Theresa May war sofort auf den Beinen und wollte wissen, ob Johnson versucht habe, eine »Allianz aus anderen Streitkräften« zusammenzustellen, um die US-Amerikaner in Afghanistan zu ersetzen. Solche Überlegungen bezeichnete Johnson als »eine Illusion«. Auch fragte May ungläubig, weshalb der Kollaps der afghanischen Regierung die Briten offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischte: »Waren unsere Informationen wirklich so schlecht?« Andere ehemalige Kabinettsmitglieder waren ebenso aufgebracht: Sie sprachen von einer »Erniedrigung« und einem »katastrophalen Versagen der westlichen Politik«. Johnson hatte kaum Antworten auf diese Kritik.
Besonders viel Zorn richtet sich auch gegen den Außenminister Dominic Raab. Als die Taliban letzte Woche immer schneller vorrückten und das Land zunehmend unter ihre Kontrolle brachten, weilte dieser in den Ferien in einem Luxushotel auf der Insel Kreta. Auch als der Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul Ende letzter Woche längst absehbar war, wollte er nicht zurückfliegen - erst in den frühen Morgenstunden am Montag landete Raab auf britischem Boden.
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Nicht nur das: Gestern wurde zudem publik, dass der Außenminister einen offiziellen Ratschlag ignorierte, seinen afghanischen Amtskollegen Hanif Atmar anzurufen, um dessen Hilfe bei der Evakuierung von Übersetzern aus Afghanistan einzufordern. Die britische Botschaft in Kabul teilte Raab mit, dass er diese Hilfe bei Außenminister Atmar persönlich erfragen sollte - so wie es der US-Außenminister Antony Blinkeb bereits getan hatte. Aber Raab ließ verlauten, er sei »zu beschäftigt« - obwohl er zu dem Zeitpunkt in den Ferien war.
Verschiedene Oppositionspolitiker forderten Raab am Donnerstag zum Rücktritt auf. Labour-Chef Keir Starmer twitterte: »Wer lehnt es ab, einen Telefonanruf zu machen, wenn er damit jemandem das Leben retten könnte?« Auch die außenpolitische Sprecherin der Liberaldemokraten, Layla Moran, sagte: »Raab muss gehen.«
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So könnte sich das Afghanistan-Debakel noch zu einer ausgewachsenen Regierungskrise entwickeln. Die mangelnde Seriosität Johnsons und die Tatsache, dass er von schweren Ereignissen wie diesem überfordert scheint, sorgt bei vielen Parteikollegen zunehmend für Frustration. Der Abgeordnete und ehemalige Minister Johnny Mercer, der selbst im Afghanistan-Einsatz war, sagte in einem Interview, ein Mitglied der Tory-Partei zu sein, sei derzeit so, als arbeite man »für eine richtig beschissene Firma«, deren Entscheidungsträger keine Ahnung haben, was sie tun.
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