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Nicht ohne meinen Sohn
Parakanutin, Sporttherapeutin und stillende Mutter: Letzteres hätte Edina Müller fast die Paralympics gekostet
Edina Müller paddelt mit entschlossenem Blick. Die Sonne glitzert auf dem Liebenberger See, nur die Paddelschläge der Parakanut*innen sind gerade zu hören und die Stimme von Bundestrainer André Brendel, der ab und zu über das Wasser ruft: »Gut so!« Wenn er in seinem kleinen Begleitmotorboot über Müller spricht, schwingt Stolz in seiner Stimme mit. »Edina kann nur aus dem Schultergürtel heraus arbeiten, trotzdem ist sie oft genauso schnell wie ihre Kolleginnen«, erklärt er nach einem Trainingsdurchlauf. Müller ist seit ihrem 16. Lebensjahr querschnittsgelähmt. Sie tritt bei den am Dienstag beginnenden Paralympics zum zweiten Mal als Parakanutin an, in der Startklasse I für Menschen mit dem schwersten Behinderungsgrad.
Nach dem Training sitzt die 38-Jährige mit dem blonden Zopf bei Kaffee und einem Stück Karottenkuchen auf der Terrasse des Olympischen und Paralympischen Trainingszentrums Kienbaum in Brandenburg. Über die Frage, ob dies das richtige Essen für eine Athletin ist, kann sie nur lachen. »Hauptsache viel«, meint sie. Grund dafür ist auch, dass sie neben dem Leistungssport noch ihren zweijährigen Sohn Liam stillt. Der ist gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht und sitzt, wie seine »Omi« Gisela Müller, mit am Tisch. Die energische Kölnerin betreut ihr »Liebchen« während der Trainingslager, wenn die Mama auf dem Wasser ist. Zu den Wettkämpfen kommt Liams Vater mit.
Zum Kanurennsport ist Müller eher zufällig gekommen. In ihrer Schulzeit spielte sie Volleyball in der B-Jugend. »Ich wollte weiterkommen, weil mir der Sport wahnsinnig Spaß gemacht hat«, sagt sie. Dann wurde sie durch den Einrenkfehler eines Orthopäden querschnittsgelähmt: »Ganz unspektakulär.« Danach habe sie verschiedene Sportarten ausprobiert und landete schließlich beim Rollstuhlbasketball. Dort spielte sie mehr als zehn Jahre mit. Nach ihrer ersten Bundesligasaison wechselte sie 2006 zum Team der US-Universität Illinois. Nachdem sie in Deutschland Rehabilitationswissenschaften studiert hatte, machte sie hier neben dem Sport einen Bachelor in Bewegungswissenschaften. Heute arbeitet Müller als Sporttherapeutin und behandelt Menschen, die eine Verletzung erlitten haben, vormittags ist sie aber für ihr Training freigestellt.
Nach Deutschland zurückgekehrt, holte sie 2008 mit dem Rollstuhlbasketball-Nationalteam Silber bei den Paralympics in Peking, 2012 folgte Gold in London. 2014 beendete sie die Basketballlaufbahn. »Eigentlich wollte ich mit der Profikarriere aufhören. Ich habe nur eine Sportart gesucht, die ich mit meinem Partner in der Freizeit ausüben kann«, erzählt sie. Sie probierte Tauchen, Klettern, Handbike - und eben Kanufahren. Doch so ganz ohne Ambitionen scheint es bei Müller nie zu gehen. Als Parakanu 2016 in Rio de Janeiro zum ersten Mal paralympische Disziplin wurde, holte sie erneut Silber.
Ihr Gesicht strahlt, wenn sie über ihren Sport spricht, doch ihre Stimme klingt verhalten. Denn die Paralympics in Tokio sind für sie diesmal mit vielen Unsicherheiten verbunden. »Wir sind schlechter vorbereitet als sonst«, ist sie überzeugt. Wegen Corona gab es weniger Vergleichswettkämpfe, sie kennt den Trainingsstand ihrer Konkurrenz nicht. An diesem Trainingstag im Juli hat sie auch noch Schmerzen im Nacken, den vierten Durchlauf musste sie ausfallen lassen.
Außerdem hatte Trainer Brendel, der die Parakanuten seit 2016 hauptamtlich trainiert, im vergangenen Winter entschieden, nicht wie sonst ins warme Trainingscamp nach Südafrika zu fahren; die nicht behinderten Kanuten fuhren hingegen in ein Wintertrainingslager. »Die Parakanuten gehören zur Risikogruppe. Das war meine persönliche Risikoabwägung«, sagt Brendel. Außerdem habe es zu Beginn des Herbstes keine Hotels mit ausreichenden behindertengerechten Kapazitäten gegeben, erläutert der Deutsche Kanu-Verband auf Nachfrage.
Zumindest dem ersten Argument widerspricht Müller: »Wir sind keine Risikogruppe, nur weil wir im Rollstuhl sitzen.« Für sie wäre ein Warmwasserlehrgang sehr wichtig gewesen, Training in kaltem Wasser kann für Müller gefährlicher sein, weil sie nicht spürt, wenn ihre Beine frieren. »Ich hätte gerne selbst die Entscheidung gehabt«, sagt sie.
Mit ihrem Kind sei es ähnlich gewesen. »Da ist die Unterstützung absolut abhängig von den handelnden Personen«, sagt sie. Es gebe keine Regel, Müttern zu helfen. Als sie schwanger wurde, habe sich ihr Trainer dafür eingesetzt, dass sie Liam mit zum Training und zu Wettkämpfen nehmen kann. »Aber andere Trainer wollen das nicht. Und dann hätte ich aufhören müssen mit dem Sport.«
Bis vor kurzem wusste Müller nicht, ob sie überhaupt nach Tokio fahren würde. Wegen der strengen Coronabeschränkungen durften Familienangehörige der Sportler*innen mit Akkreditierung einreisen - kleine Kinder aber wurden nicht akkreditiert. Erst der Protest mehrerer stillender Athletinnen, darunter die US-Langstreckenläuferin Aliphine Tuliamuk und die kanadische Basketballerin Kim Gaucher, führte zur Aufhebung dieser Regel. Auch Müller schrieb Anträge an das Internationale Paralympische Komitee (IPC). Sie habe nicht verstanden, dass sich das IPC die Förderung von Frauen auf die Fahne geschrieben hatte, dann aber »Müttern verbietet, ihre Kinder mitzubringen«. Ob sie ohne Liam gefahren wäre? Sie ist sich nicht sicher: »Vielleicht wäre ich nur für vier Tage Wettkampf gekommen. Aber das wäre sportlicher Selbstmord gewesen«, so Müller. Dann hätte ihr die Zeit gefehlt, um sich vom Jetlag zu erholen und an die hohen Temperaturen zu gewöhnen.
Nun werden Mann und Kind im Hotel untergebracht, und Liam kann gestillt werden. Müller selbst hat wie geplant ein Zimmer im Paralympischen Dorf. Aber: »Es ist quasi mein Privatvergnügen, dass ich mein Kind mitnehme. Ich finanziere das alles selbst«, erzählt sie. Es gäbe andere Verbände, wo Mütter unterstützt würden. Im Deutschen Kanu-Verband hätten alle »einfach hingenommen«, dass sie Liam möglicherweise nicht mitnehmen kann. Der DKV meint, es sei wegen der restriktiven Bedingungen in Tokio schwierig gewesen, die Organisatoren zu überzeugen, dass für eine stillende Mutter Ausnahmen gefunden werden müssen. Dass sie bei der Beantragung auf sich gestellt war, wird aber nicht abgestritten. »Ich glaube, alle waren der Ansicht, dass sie das nicht ändern können. Darum habe ich mich selbst gekümmert«, so Müller.
Die Verantwortlichen und Offiziellen scheinen Mutterschaft und Leistungssport nicht zusammen zu denken. Das könnte auch daran liegen, dass viele der Trainer und Funktionäre Männer sind. Zu dem üblichen Vorwettbewerb ein Jahr vor den Spielen war Müller 2019 erst gar nicht eingeladen worden. Sie zeigt kein Zeichen von Verbitterung, wenn sie sagt: »Ich war bei denen wahrscheinlich einfach nicht auf dem Schirm, weil ich vorher schwanger war.« In solchen Momenten schaltet sich Mutter Gisela ein, die ansonsten ganz mit ihrem Enkel beschäftigt ist: »Da ist nicht immer alles so... «, brummelt sie vielsagend. Klar ist, dass Edina Müller schon sieben Wochen nach Liams Geburt per Kaiserschnitt im Januar 2019 wieder trainiert hatte und noch im selben Jahr Vizeweltmeisterin wurde. »Ich hätte also auch bei diesem Wettbewerb schon teilnehmen können«, stellt sie trocken fest.
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Ihrem Spaß am Kanusport tat das alles keinen Abbruch. Sie mag es, so viel draußen zu sein. »Und das Miteinander ist wahnsinnig angenehm«, schwärmt sie. Warum sie in jeder Sportart, die sie ausprobiert, so erfolgreich ist? »Die Erfahrung macht vieles einfacher. Man hat ein gewisses Mindset, kennt den eigenen Körper, die besten Hilfsmittel«, so erklärt sie sich das. Und ihr Ziel für die Paralympics 2021? »Auf jeden Fall eine Medaille«, sagt Müller zögernd. »Gold natürlich!«, ruft ihre Mutter aus dem Hintergrund.
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