Der Wahnsinn bleibt nicht in Berlin

Elke Witzleben und ihre Kinder brauchen im Speckgürtel ein neues Zuhause und finden keine für sie bezahlbare Wohnung

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Elke Witzleben wohnt seit 2012 als Mieterin in einem Reihenhaus in Hohen Neuendorf, einer Stadt mit 26 000 Einwohnern nördlich von Berlin. Für 95 Quadratmeter bezahlt sie monatlich 723,76 Euro Warmmiete – ein vergleichsweise fairer Preis. Doch die Eigentümerin kündigte zum April 2022 aus durchaus sehr gut nachvollziehbaren persönlichen Gründen wegen Eigenbedarfs.

Elke Witzleben sieht das ein und würde anstandslos in eine andere Wohnung umziehen – wenn eine in der Nähe zu finden wäre, die sie sich leisten kann. Denn die 60-Jährige hat noch eine Tochter und einen Sohn im Haus. Drei ältere Kinder sind bereits erwachsen und ihre eigenen Wege gegangen. Die Tochter ist in der 10. Klasse, also im Abschlussjahr. Der Sohn besucht die 12. Klasse und würde im Jahr darauf seine Prüfungen ablegen. Die beiden Jugendlichen ausgerechnet in dieser wichtigen Lebensphase aus dem gewohnten sozialen Umfeld zu reißen, das will die alleinerziehende Mutter ihnen nicht zumuten. Schließlich könnte sich das negativ auf die Zeugnisse und damit die späteren Berufsaussichten auswirken. Doch in Hohen Neuendorf und Umgebung seien fast gar keine Wohnungen frei. Wenn doch, dann sind sie etwa doppelt so teuer, erzählt Witzleben. Das kann sich die Familie nicht leisten. Die Mutter bezieht 1050 Euro Erwerbsunfähigkeitsrente, 309 Euro Unterhaltsvorschuss und 676 Euro Kindergeld und Kindergeldzuschuss. Seit Kurzem verdient Witzleben noch 120 Euro im Monat dazu, indem sie das Vereinshaus ihres Bouleclubs in Berlin-Reinickendorf putzt. Aber da wird gegenwärtig berechnet, wie viel ihr im Gegenzug vom Kindergeldzuschuss abgezogen wird.

Für sie bezahlbare Wohnungen entdeckte die 60-Jährige bisher nur in Zehdenick, rund 40 Kilometer weiter Richtung Norden – oder noch weiter weg. Wenn der Sohn und die Tochter nicht die Schule wechseln, müssten sie von dort mindestens 90 Minuten bis zum Unterricht pendeln. Hin und zurück wären das drei anstrengende Stunden Fahrt am Tag, die fürs Lernen fehlen und auch dafür, sich mal mit Freunden zu treffen.
Im Rathaus von Hohen Neuendorf, wo Elke Witzleben dieser Tage vorsprach, habe man ihr Hilfe bei der Wohnungssuche versprochen, aber auch gesagt, 90 Minuten Schulweg seien zumutbar, berichtet Witzleben. Es stimmt: In dünn besiedelten Gegenden Brandenburgs wie der Prignitz und der Uckermark sind Schüler teils sogar noch länger unterwegs. Das ist aber traurig und wäre im Berliner Umland nicht notwendig. Hier gibt es genug schnell erreichbare Schulen.

Elke Witzleben fühlt sich abgeschoben aus dem Revier jener Menschen, die sich im Gegensatz zu ihr ein Eigenheim oder eine teure Wohnung leisten können. Für sie scheint es in Hohen Neuendorf keinen Platz mehr zu geben, ungeachtet ihrer gesundheitlichen Probleme.

»Die Wohnsituation in Hohen Neuendorf und Umgebung ist sehr angespannt«, weiß Lukas Lüdtke, Linksfraktionschef im Stadtparlament. »Viele Menschen wollen zu uns ziehen, was natürlich erfreulich ist. Aber die Preise steigen und trotz reger Bautätigkeit ist es selbst für Besserverdiener schwer, eine Wohnung zu bekommen oder ein Haus zu kaufen.« Deshalb sei eine kommunale Wohnungsgesellschaft im Aufbau. Die Linke habe das angeregt und sogar die CDU davon überzeugen können. Ziel sei, in den nächsten Jahren rund 200 Wohnungen zu bauen. Im Moment verfüge die Stadt nur über etwa 120 kommunale Wohnungen, erklärt Lüdtke.

»Die Wohnungssituation im Speckgürtel ist derzeit so angespannt, dass es tatsächlich zu häufig zu einer Verdrängung kommt«, bedauert Ariane Fäscher, SPD-Bundestagskandidatin aus Hohen Neuendorf. Die Betroffenen könnten sich das Wohnen im Speckgürtel nicht mehr leisten. »Das verändert und spaltet die Gesellschaft«, sagt Fäscher. »Wohnen ist ein Recht, kein Almosen und darf nicht mehr als ein Drittel des Einkommens verbrauchen.« Das Dilemma seien lange Planungsverfahren und hohe Baukosten, die eine schnelle Abhilfe durch Neubau schwerlich erhoffen lassen.

Elke Witzleben befürchtet, in nächster Zeit keine bezahlbare Wohnung zu finden. Schon seit sechs Jahren steht sie auf der Warteliste einer Wohnungsgesellschaft. Auf das geplante kommunale Wohnungsunternehmen angesprochen, winkt sie ab. Die Gründung werde doch schon seit Jahren versprochen. Sie glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass es etwas wird. Eher hofft sie noch, dass jemand von der Notsituation hört und sich entschließt, die Familie Witzleben in seinem Haus aufzunehmen. Immerhin möchte sich Linksfraktionschef Lüdkte jetzt umhören. Auf Anhieb fällt ihm leider auch keine Lösung ein.

Die Chancen, eventuell doch noch länger in der alten Wohnung bleiben zu dürfen, sind gering. Die Eigentümerin hat triftige Gründe. Gegen echte Eigenbedarfskündigungen sei wenig zu machen, bestätigt Rainer Radloff, Geschäftsführer des brandenburgischen Mieterbundes. Anders nur dann, wenn die Lage der Mieter als Härtefall eingestuft wird. Losgelöst von dem konkreten Fall kann Radloff sagen, der Mieterbund werde alle Bundestagskandidaten »auch daran messen, ob sie sich für den verbesserten Kündigungsschutz bei Eigenbedarf einsetzen«. Die Zahl der Eigenbedarfskündigungen im Berliner Umland nehme zu. Nicht selten täuschten Vermieter den Eigenbedarf dabei nur vor, um die Wohnung anschließend zu verkaufen oder teurer zu vermieten, berichtet Radloff. Dies nachzuweisen sei allerdings nicht einfach und oft erst im Nachgang möglich. Dann jedoch sei die Wohnung meist bereits verloren und es bleibe den Mietern häufig nur noch übrig, Schadensersatz zu fordern.

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