Straßenbahn ganz ohne Fahrer

Siemens schickt im Depot des Potsdamer Verkehrsbetriebs eine Weltneuheit aufs Gleis

  • Andreas Fritsche, Potsdam
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit bis zu 16 Kilometern pro Stunde kurvt die Straßenbahn eine Runde über den Betriebshof der kommunalen Verkehrsbetriebe in Potsdam (ViP) an der Fritz-Zubeil-Straße 96. Sie fährt ein in die Waschstraße, wird dort mit Wasser bespritzt und mit Bürsten gereinigt. Der Clou dabei: Das geschieht alles vollautomatisch. Es sitzt kein Fahrer in der Bahn und es steht nicht wie gewöhnlich ein Arbeiter in der Waschstraße, der das Waschprogramm auswählt und startet.

Was die Siemens Mobility GmbH hier am Montag vorführt, ist eine »Weltneuheit«, erklärt Projektleiter Daniel Hoepffner begeistert. Eine autonom fahrende Tram ist in Potsdam bisher nicht nur im Depot, sondern im Jahr 2018 auch schon erstmals draußen im Verkehr unterwegs gewesen. Das war ebenfalls eine Weltpremiere. Aber da saß noch sicherheitshalber ein Fahrer dabei, der eingreifen konnte. Jetzt ist die Technik so weit ausgereift, dass dies im Depot nicht mehr notwendig ist. Das habe noch niemand anders geschafft, schwärmt Hoepffner.

Draußen im Linienverkehr völlig ohne Fahrer unterwegs zu sein, ist noch nicht erlaubt und da gibt es auch noch einiges zu tüfteln. Aber: »Das nächste Ziel ist, das gebe ich offen zu, dass wir auch im ganz normalen Straßenverkehr autonom fahren«, sagt Siemens-Mobility-Chef Albrecht Neumann. »Das ist noch einmal eine viel größere Herausforderung. Das ist für unsere Ingenieure die Champions League.« Denn da müssen Radar und Laserscanner vielfältige Störfaktoren und Gefahrensituationen erkennen, beispielsweise kreuzende Autos oder Fahrgäste, die an der Haltestelle zu dicht an den Gleisen stehen.

Im Versuch auf dem Betriebshof funktioniert dergleichen bereits. Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) ist vorher bereits zweimal mit der autonom fahrenden Tram unterwegs gewesen und saß auch schon einmal in einem autonom fahrenden Auto. Das sei »erst mal ein anderes Gefühl«, gesteht er. »Aber das Vertrauen wächst.« Bei ihm hat sich ein derartiges Zutrauen entwickelt, dass er sich sogar als »Versuchsobjekt« zu Verfügung stellte, wie er berichtet. Schubert lief unvermittelt vor der Bahn auf die Gleise. »Sie sehen mich hier noch in einem Stück. Die Tram hat angehalten«, erklärt der Oberbürgermeister am Montag beim Demonstrationstermin auf den Betriebshof. Er wünscht sich, dass die Technik schnell marktreif gemacht wird. »Die anderen schlafen nicht«, sagt er über die Konkurrenz.

2026 möchte Siemens soweit sein, dass die Tram im Normalbetrieb fahren kann. Noch funktioniert selbst im Depot nicht alles vollautomatisch. So muss nach der Probefahrt Projektleiter Hoepffner die Türen manuell durch Knopfdruck öffnen. Da die Steuerung der Türen technisch kein großes Problem ist, die Tram sowieso noch keine Straßenzulassung hat und auch noch nicht bekommen kann – die gesetzliche Grundlage dafür fehlt noch –, haben sich die Ingenieure dafür noch keine Zeit genommen. Die Scheibenwischer zum Beispiel sind aber schon automatisiert.

Tobias Miethaner ist erst einmal stolz, dass die Bundesrepublik seit Juni als erster Staat ein Gesetz hat, das autonom fahrende Autos flächendeckend zulässt – wenn auch vorerst nur in den Bereichen, in denen die Kommunen das erlauben. Das hätte man von Deutschland nicht erwartet, dass es bei einer »riskanten Technologie« ganz vorn ist, meint der Abteilungsleiter im Bundesverkehrsministerium.

Für 344 digitale Mobilitätsprojekte wie die Potsdamer Tram hat Miethaners Ressort seit dem Jahr 2016 insgesamt 200 Millionen Euro Fördermittel springen lassen. »Das ist eine Technologie, die eigentlich sicherer ist als der Mensch«, versichert der Abteilungsleiter. »90 Prozent der Unfälle verursacht der Mensch.« Dennoch ist Miethaner erleichtert, dass sich der Oberbürgermeister als Versuchsobjekt hergab und nicht er selbst diesen Mut beweisen musste.

Siemens versichert, das Experiment sei eigentlich nicht riskant. Im Gegenteil: »Menschen machen Fehler. Da gibt es mal einen Rangierrempler und es entstehen Reparaturkosten«, erinnert Manager Neumann. »Autonome Systeme schließen so etwas aus.«
Die Anwendung der Technologie ersetzt natürlich im großen Maßstab Arbeitsplätze. Aber nach Ansicht von Oberbürgermeister Schubert ist das kein Nachteil, sondern gut, weil es künftige Personalprobleme löse. »Leider lassen nicht mehr ganz so viele Jungs und Mädchen dem Wunsch, Straßenbahnfahrer zu werden, Taten folgen.« Es werde immer schwieriger, Kollegen zu finden.

Der Fortschritt lässt sich auch nicht aufhalten, ist der Landtagsabgeordnete Christian Görke (Linke) überzeugt. »Die Digitalisierung ist eine Entwicklung, die uns bevorsteht. Das ist unbestritten.« Trotzdem müsse niemand den Verlust von Arbeitsplätzen im Öffentlichen Personennahverkehr fürchten, versichert der Politiker, der bei der Bundestagswahl am 26. September als Spitzenkandidat seiner Partei in Brandenburg antritt. Es würden weiterhin viele Arbeitskräfte gebraucht, weil der Nahverkehr massiv ausgeweitet werden solle. Die Linke wünsche sich bundesweit mehr als 200 000 zusätzliche Beschäftigte in diesem Sektor, damit die ökologische Verkehrswende gelinge, erklärt Görke.

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