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Eine Landschaft voller Weisheiten
Geistesgeschichte als Geistergeschichte: »Der Himmel vor hundert Jahren« von Yulia Marfutova
Es ist nicht mal ein Wort, nur ein Laut, der die Geschicke der Dorfbewohner beschreibt. »Mhm« macht Ilja, der Dorfvorsteher, der Gelehrte in ihrer Mitte, immer wieder »Mhm« mit Blick auf das Barometer, das »Röhrchen«, wie sie es hier nennen, das die Veränderung des Wetters und so die Zukunft der Ernte voraussagt, wobei Ernte und Zukunft ohnehin auf das Gleiche hinauskommen.
Das Wetter der nächsten Tage ist in dieser sibirischen Einöde Ende des Ersten Weltkriegs schon die ganze Zukunft, auf die man vernünftigerweise hoffen oder die man fürchten darf. Der Zustand des Röhrchens könnte den Hungertod bedeuten, oder ein Schrumpfen der aufgeblähten Hungerbäuche, Ilja freilich bleibt sich treu, bleibt so oder so beim »Mhm«.
Sein Gegenspieler Pjotr hat andere Methoden, er verweigert sich dem technischen Fortschritt und befragt lieber die Flussgeister. Auch seine einstige Geliebte Inna, inzwischen längst mit Ilja verheiratet, vertraut eher einem handfesten Aberglauben, als an so luftige Legenden wie denen vom Luftdruck. Als ihr beim Kochen ein Messer aus der Hand fällt, ist sie sich sicher: Ein Mann wird kommen.
Und tatsächlich kommt ein Mann, einer in Uniform. Wadik, so heißt er, erzählt, der Krieg sei vorbei, es habe nun ein neuer angefangen, inzwischen kämpfe man um Ideen. Der Neuankömmling bringt die Dorfgemeinschaft durcheinander, gefährdet gar die friedliche Koexistenz zwischen den Weltanschauungen der Ältesten Ilja und Pjotr. Und dann kommen auch noch zwei weitere Soldaten, hier »Die Realität« genannt, die eine neue Zeit verkünden und sogleich die Besitzverhältnisse des Dorfes mit Waffengewalt zu ihren eigenen Gunsten neu ordnen.
Unschwer lässt sich erkennen, dass es sich bei Yulia Marfutovas Roman »Der Himmel vor hundert Jahren« um eine Parabel handelt. Die Autorin ruft die russische Revolution und die anschließenden Bruderkämpfe auf, der Zar ist repräsentiert durch den Gutsherrn und seinen Verwalter, Rasputin hat einen Cameo-Auftritt in den Gerüchten des Dorfes, Trotzki und Stalin scheinen in ihren Figuren durch.
Die historische Analogie kommt, ganz entgegen den Spielregeln dieses literarischen Genres, leichtfüßig und unterhaltsam daher. Das liegt am Stil, der originellen Erzählstimme, die immer mal wieder ironisch das Dorfgeschehen kommentiert, ihre Figuren sanft auf dem Spielfeld hin- und herschubst, ihnen dabei stets zugetan bleibt. Aber der Roman klebt nicht an diesem Programm, er spielt Weltgeschichte nicht nur im Kleinen durch, es geht um mehr: um die Macht von Geschichten schlechthin. An einer Stelle, da Wadik gerade seine Vision der Zukunft vorausgesagt hat, heißt es, man müsse »seine Ideen nicht verstanden haben, um zu verstehen, dass es Geisterwesen sind«.
Die Autorin, geboren 1988 in Moskau, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und promovierte in Münster. In ihrem Debüt erzählt sie nicht nur gekonnt eine unterhaltsame Dorfgeschichte, sie erzählt auch Geistesgeschichte, oder eben: Geistergeschichte. Die Fluss- und Waldgeister sind in diesem Dorf genauso plausibel und mächtig wie das Orakel des Barometers. Mit den Neuankömmlingen erreichen nun die intellektuellen Geschichten das Dorf, die Theorien von einer neuen Gesellschaftsordnung mal dieser, mal jener Interpretation. Marfutova erzählt davon ohne auch nur einmal das Wort »Kommunismus« zu verwenden. Sie stellt das Naturmythische gleichberechtigt neben die Technik, neben die Ideologie. »Die neuen Gespenster machen es sich neben den alten bequem und trinken den ersten Tee miteinander. Tauschen Geisterweisheiten aus. Erzählen sich Witze. Treffen sich zwei usw.«
Doch es bleibt nicht beim gemütlichen Beisammensein, denn Ideen haben die Angewohnheit, Wahrheit für sich zu reklamieren, keine anderen Geister neben sich zu dulden. Hat sich erst mal eine durchgesetzt, können die Konsequenzen bedrohlich reale Ausmaße annehmen. Das Dorf schrammt nur knapp an einer Katastrophe vorbei und hat einen hohen Preis für seine Rettung zu bezahlen. Es muss eines seiner Gespenster opfern, um dem Terror zu begegnen.
Marfutova kann erzählen, aber sie nutzt Sprache nicht einfach nur, sondern stellt sie aus und zur Disposition. Das Dorf beschreibt sie wie folgt: »Diese Landschaft ist eine Landschaft der Redensarten und Geschichten, die sich vor einem ausbreiten, sich bis zur Unübersichtlichkeit ausfalten und in Nebensträngen verlieren. Eine Landschaft voller Weisheiten, mehr aus Gewohnheit als aus Tradition, mehr aus Intuition als aus sonst einer Erwägung.«
Von Sprichwörtern ist dann auch immer wieder die Rede, diese geronnenen Lebensflüsse, in Konvention eingesperrte Sätze. Marfutova bedient sich ihrer und unterzieht sie zugleich einer freundlichen Analyse. Das Ergebnis: Die Sprache selbst ist nicht unschuldig, sie kann die Gegenwart gefangen halten, transportiert stets auch Gewalt, ist die erste Ideologie noch vor allen anderen. Diese Erkenntnis dürfte nicht überraschen, aber nur selten wird sie so elegant präsentiert wie in diesem Roman.
Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren. Rowohlt, 192 S., brosch.., 22 €.
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