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- Paralympics in Tokio
Gegen Ängste spielen
Sportler mit schweren Behinderungen wollen Aufmerksamkeit, kein Mitleid
Zu den bekanntesten Parasportlern in Deutschland zählen: Markus Rehm – Rekordweitspringer mit Hightechprothese, Andrea Eskau – rasende Handbikerin und Niko Kappel, durchtrainierter Kugelstoßer. Die drei haben schon viele Titel gewonnen – und wollen auch von den Paralympischen Sommerspielen in Tokio wieder goldglänzendes Edelmetall mit nach Hause bringen. Doch nicht nur deshalb seien sie interessant für das Publikum, die Medien und Sponsoren, sagt Thomas Abel, einer der Paralympicsexperten der Deutschen Sporthochschule in Köln: »Wenn Markus Rehm eine Jeans anhat, dann sehen wir nicht mal, dass es da eine Behinderung gibt. Und wenn sie jemanden im Rollstuhl sehen, kennen wir das auch: Die Mimik und Gestik sind kaum verändert. Da haben wir irgendwie kaum Berührungsängste.«
Thomas Abel möchte nicht falsch verstanden werden. Er will keinesfalls Sportarten und Klassifizierungen von Behinderungen gegeneinander ausspielen, aber er wünscht sich, dass die Paralympics die gesamte Vielfalt ihrer sportlichen Bewegung abbilden. Daher lenkt er die Aufmerksamkeit auf Boccia, eine paralympische Sportart für Menschen mit teilweise sehr schweren Behinderungen. Einige Spieler haben eine infantile Zerebralparese, eine frühkindliche Hirnschädigung. »Deshalb sind Muskeln nur noch schlecht anzusteuern oder haben ein Eigenleben«, sagt Abel. »Andere Spieler haben Zuckungen oder vielleicht einen fehlenden Mundschluss. Das macht einem Teil des Publikums manchmal Sorgen.«
Boccia kann Berührungsängste abbauen. Ein Spiel mit Wurzeln im alten Ägypten, im Detail entwickelt im 16. Jahrhundert in Italien. Boccia gehört seit 1984 zum paralympischen Programm. Die Spieler oder Spielerinnen müssen einen Lederball möglichst nah an einer zuvor geworfenen Kugel platzieren. Dabei sind nicht etwa Schnelligkeit, Explosivität oder Kraft entscheidend, sie sind nicht mal erforderlich. Stattdessen geht es um Technik, Konzentration und Genauigkeit. Die Aktiven, die je nach Beeinträchtigung in vier verschiedenen Klassen antreten, sind im Alltag meist auf einen Rollstuhl und Assistenz angewiesen. »Einige Spieler können nur den Kopf bewegen«, sagt Thomas Abel. »Doch sie zeigen: wettkampforientierter Sport ist möglich. Es geht nicht um Mitleid, sondern um systematisches Training und Höchstleistungen.«
Jetzt in Tokio ist Deutschland erstmals im Boccia mit einem Spieler bei Paralympischen Sommerspielen vertreten. Boris Nicolai hatte diesen Sport während eines Urlaubs in einem Hotel für Menschen mit Behinderungen auf Teneriffa kennengelernt, erzählte er der Paralympics-Zeitung des Berliner »Tagesspiegel«. Der 36-Jährige, der aus Sankt Ingbert im Saarland stammt und als Maschinenbautechniker arbeitet, fand Gefallen daran, trainierte regelmäßig und wurde so von Jahr zu Jahr besser. Doch die Vorbereitungen für Tokio waren problematisch: Boris Nicolai lebt mit einer Muskeldystrophie und gehört zur Corona-Risikogruppe, sein letztes wichtiges Turnier vor den Paralympics bestritt er im Oktober 2019. Aber vielleicht schafft er es ja nach Platz drei bei den Weltmeisterschaften 2018 und Rang zwei bei den Europameisterschaften 2019 trotzdem auch beim weltgrößten Sportereignis auf das Podest.
Dennoch: Das paralympische Boccia steht in Deutschland erst am Anfang, der Trainingsstützpunkt liegt im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach. Dort arbeitet der Deutsche Behindertensportverband mit der Diakonie und dem Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderter Menschen zusammen. »Der Organisationsaufwand ist im Boccia vergleichsweise hoch«, sagt Karl Quade. »Wir brauchen dafür ein barrierefreies Umfeld«, ergänzt der sportliche Delegationsleiter der deutschen Paralympier. Boris Nicolai möchte das Interesse mit guten Leistungen auf Boccia lenken. Und er könnte damit sicherlich auch Berührungsängste mindern.
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