- Brandenburg
- Tarifstreit im Gesundheitswesen
Sirene heult beim Warnstreik
116 Beschäftigte der Asklepios-Kliniken bei Kundgebung zum Tarifstreit
Wenn andere bei der Kundgebung auf dem Neustädtischen Markt in Brandenburg/Havel applaudieren, dreht André Isensee an der Kurbel einer verbeulten Alarmsirene, die einen durchdringenden Heulton erzeugt. Sein Schwiegervater ist Handwerker und baute das Teil in einer Betriebskantine aus. Nun ist die Sirene zusammen mit einer Klingel und einem Flaschenöffner an einem Birkenast befestigt und dient dazu, bei Fußballspielen Stimmung zu machen. Doch in der Pandemie sind die bei Streiks üblichen Trillerpfeifen tabu, weil man hineinblasen muss und dabei Viren auspusten könnte. »Aber kurbeln darf man ja«, denkt sich Isensee.
In den zurückliegenden Wochen traten Beschäftigte der psychiatrischen Kliniken in Brandenburg/Havel, Teupitz und Lübben bereits für zwei mal zwei Tage in den Warnstreik, um in dem seit April laufenden Tarifstreit Druck zu machen. Der Asklepios-Krankenhauskonzern, an den das Land Brandenburg die drei Kliniken 2006 verkaufte, bewege sich aber nur in ganz kleinen Schritten auf die Gewerkschaft Verdi zu, wie Sekretär Ralf Franke beklagt. Deshalb am Montag der fünfte Tag Warnstreik – und Dienstag, Mittwoch und Donnerstag geht es weiter. Schon fünf Tage im Ausstand sind ein Rekord. Bisher sei das in einer Tarifauseinandersetzung an einem Krankenhaus in Brandenburg noch nie notwendig gewesen, erklärt Franke.
Jirka Wittulski ist Betriebsrat in Teupitz im Prinzip schon seit 2002. Bis zur Privatisierung 2006 hieß es allerdings Personalrat, und an Streik war damals nicht zu denken. Für mehr Lohn im Öffentlichen Dienst streikten seinerzeit die Müllfahrer, »und wir haben dann auch mehr Geld bekommen«, erinnert Wittulski. Jetzt müssen die Krankenschwestern und Pfleger selbst kämpfen. Das nimmt ihnen niemand mehr ab.
23 Kollegen aus Lübben und 16 aus Teupitz haben sich während der Anreise im Bus oder auf dem Neustädtischen Markt in die Anwesenheitsliste eingetragen. Dazu kommen 77 Kollegen aus der Klinik in Brandenburg/Havel sowie aus dem Maßregelvollzug im hiesigen Gefängnis. André Isensee, der Mann mit der Sirene, gehört zur Belegschaft des Maßregelvollzugs, in dem psychisch schwer gestörte Kriminelle untergebracht sind.
Auch den Maßregelvollzug gab das Land Brandenburg an Asklepios ab – ein Unding, wie Gewerkschaftssekretär Franke meint. In Baden-Württemberg etwa wäre das undenkbar gewesen. Mit Blick auf den erforderlichen Notdienst während des Warnstreiks bemerkt Franke: Wenn es so wichtig wäre, dass der Maßregelvollzug rund um die Uhr ohne Einschränkungen funktioniert, dann hätte Brandenburg ihn nicht privatisieren sollen. Von den 1450 Beschäftigten in den drei Kliniken und im Maßregelvollzug machen am Montag 160 Notdienst und weitere 70 beteiligen sich nicht am Streik, weil sie Nachschicht hatten und ausschlafen müssen, rechnet Franke vor. Die Patienten müssen ja versorgt werden. Trotzdem will Franke wissen: Wenn Krankenhäuser verkauft und wie Industriebetriebe geführt werden, warum darf das Pflegepersonal dann nicht genauso geschlossen streiken wie Industriearbeiter?
Die Asklepios-Kliniken sagen, Verdi fordere den Tarif für den Öffentlichen Dienst. Der aber sei – wie der Name schon sage – nicht für privatwirtschaftliche Unternehmen wie Asklepios vorgesehen. Man biete bis zu 16 Prozent mehr Lohn und befinde sich damit auf der Höhe anderer Haustarifverträge, die Verdi für Kliniken in Brandenburg abgeschlossen habe.
Das mit den 16 Prozent stuft Franke als Falschinformation ein. Tatsächlich seien nur 4,1 bis 8,5 Prozent mehr Lohn angeboten worden. Und dabei arbeiten die Brandenburger derzeit anderthalb Stunden mehr pro Woche und verdienen 16 Prozent weniger als ihre Kollegen in Hamburg, so Franke. Das findet Gesamtbetriebsratschef Thomas Haul auch ungerecht und lässt aus Hamburg »solidarische Unterstützung« ausrichten. Seine Nachricht wird auf dem Neustädtischen Markt verlesen.
Bundestagskandidat Tobias Bank (Linke) ist persönlich da und sagt den Streikenden: »Es kann nicht sein, dass ihr zu Beschäftigten zweiter Klasse gemacht werdet, nur weil ihr Ostdeutsche seid!« Eigentlich müsste nicht nur die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich aufs Westniveau reduziert werden, findet er. »Ihr müsstet noch zehn Prozent Aufschlag bekommen, weil ihr schon so lange auf einen gerechten Lohn wartet.« Es gibt Beifall und André Isensee lässt seine Sirene heulen.
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