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Die Verschwundenen sichtbar machen
Eine Ausstellung in Berlin widmet sich dem Schicksal derer, die Gewalt erlitten und bis heute als vermisst gelten
In einem belebten Hinterhof am Berliner Hackeschen Markt prangt zwischen vielen Cafés und direkt neben dem »Anne Frank Zentrum« ein frisch erstelltes Wandbild. »Lebend wurden sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück!« ist auf Spanisch, Englisch und Deutsch darauf zu lesen. Dazwischen finden sich Gesichtszüge von Männern, Frauen und Kindern, die verschwunden sind.
Da ist ein Porträt der 21 Jahre alten Alicia D’Ambra, die 1976 kurz nach dem Militärputsch in Argentinien entführt und in verschiedenen Lagern gefoltert wurde. Ihre Spur verlor sich 1977.
Die zwölfjährige Ana Maria aus El Salvador wollte 2007 in die USA migrieren - und verschwand. Ihre Mutter Yolanda hat sich der »Karawane der Mütter verschwundener Migrant*innen« angeschlossen und sucht ihre Tochter noch immer.
Der Philippine Jonas Burgos wurde 2007 entführt und ist nie wieder aufgetaucht. Der Oberste Gerichtshof des Landes macht die philippinische Armee dafür verantwortlich, bestraft wurde bislang niemand.
Sie alle wurden unter Beteiligung von oder unter Duldung durch staatliche Stellen entführt. Ihr Aufenthaltsort wurde verschleiert oder ist nicht bekannt. Sie und ihre Angehörigen erhalten keinen rechtlichen Schutz durch staatliche Institutionen. Viele Verschwundene wurden mutmaßlich ermordet, aber ihre Leichen nie gefunden, ihr Tod nie bestätigt. Unter ihnen sind Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Medienschaffende, Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts entführt werden, und zunehmend auch Migrierende in Folge der Abschottungspolitik Europas und der USA. Allein in Mexiko gelten über 90 000 Menschen offiziell als verschwunden. Ihre Familien und Freunde suchen oft bis an ihr Lebensende nach ihren Liebsten und nach Gewissheit - und finden keine Ruhe.
Vor dem drei Stockwerke hohen Wandbild stehend erklärt Annika Hirsekorn, die das Projekt zusammen mit der Galerie neurotitan und dem internationalen Netzwerk der »Koalition gegen das Verschwindenlassen« organisiert, sie wollten das Thema in den öffentlichen Raum tragen: »So haben wir einen Aufruf in verschiedenen Sprachen gestartet, nach Porträts Verschwundener und Suchender gefragt.«
Aus den eingegangenen Bildern, Namen und Berichten stellten die Künstler*innen Nele Konopka, Sol Undurraga und Tobias Morawski eine Collage zusammen. Zum Internationalen Tag für die Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens am 30. August bauten sie im Hof ein Gerüst auf und malten die Collage.
»Wir wollten den Prozess unbedingt begleiten«, sagt Annika Hirsekorn. »Es waren immer Expert*innen vor Ort, während wir gemalt haben.« Viele Menschen seien stehengeblieben, es hätten sich auch längere Gespräche ergeben. »Mit dieser Mitmachaktion wollen wir auch einzelne Schicksale von Verschwundenen beleuchten, denn sie dürfen nicht vergessen werden«, erklärt Melanie Bleil von Brot für die Welt und Teil der Koalition gegen das Verschwindenlassen. »Außerdem brauchen deren Angehörige unsere Solidarität. Wir unterstützen sie in ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit.«
Dieses Ziel verfolgt auch die 2010 in Kraft getretene UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen. Die frühere Grünen-Europapolitikerin Barbara Lochbihler ist seit 2019 Mitglied im zugehörigen UN-Ausschuss. Um auch eine bessere strafrechtliche Verfolgung von Täter*innen zu gewährleisten, betont sie, Deutschland sei »als Vertragspartei der Konvention verpflichtet, einen eigenen Straftatbestand« des Verschwindenlassens einzuführen. Dies hat die Bundesregierung bislang aber nicht getan.
Das Wandbild ist Teil des Rahmenprogramms einer Ausstellung über den vor acht Jahren verstorbenen argentinischen Konzeptkünstler León Ferrari, der sich zeitlebens gegen das Verschwindenlassen engagiert hat. In die Räume der Galerie gelangt man durch einen Comicladen im hinteren Bereich des Hofes. Hier ist noch bis 25. September die Ausstellung »León Ferrari - reproducing them infinitely« zu sehen, und dem Titel entsprechend springen einem sofort Bilder aus unendlich sich wiederholenden geometrischen Mustern ins Auge.
Ein zentrales Thema der Ausstellung ist die Auseinandersetzung mit der argentinischen Diktatur (1976 bis 1983), während der laut Schätzungen bis zu 30 000 Personen verschwanden. »Die Diktatur war das einschneidende Erlebnis in León Ferraris Biografie, das ihn enorm politisiert hat«, erklärt Annika Hirsekorn, die zusammen mit Paloma Ferrari, der Enkelin des Künstlers, die Ausstellung kuratiert. Ferraris Sohn Ariel ist einer der Verschwundenen der Diktatur, er selbst ging mit seiner Familie für Jahre ins Exil nach Brasilien.
León Ferrari arbeitete mit den Müttern und den Großmüttern der Plaza de Mayo zusammen, die ihre verschwundenen Kinder und Enkel suchten und Aufklärung der Verbrechen forderten. 1983, nach dem Ende der Diktatur, erstellte die »Nationale Kommission über das Verschwindenlassen« einen 50 000 Seiten umfassenden Bericht mit dem Titel »Nunca más« - »Nie wieder«.
Als die argentinische Tageszeitung »página12« später Auszüge davon in einer Serie von 30 Sonderausgaben veröffentlichte, war es León Ferrari, der diese Hefte illustrierte: mit überbordenden Zeichnungen von malträtierten Menschenkörpern, von Geiern und Engeln, Militärs und Klerikern. Die katholische Kirche und ihre starke Verflechtung mit der Diktatur kritisierte er scharf.
»Von der Kunst erwarte ich nur, dass ich durch sie so klar wie möglich ausdrücken kann, was ich denke«, lautet ein in der Ausstellung präsentiertes Zitat Ferraris. Wegen dieses politischen Ausdrucks sind Ferraris Werke auch für die Argentinierin Anahí Marocchi bedeutsam: »Er ist ein Künstler von internationalem Rang«, sagt sie - und: »Sein Schaffen geht weit über den kulturellen Aspekt hinaus, er hat in seiner Kunst die Diktatur beschrieben.«
Die heute 67-jährige Anahí Marocchi spielt selbst eine Schlüsselrolle in der Aufarbeitung von Diktaturverbrechen und im Kampf gegen Straflosigkeit. Ihr Bruder, Omar Marocchi, wurde nämlich 1976 als 19-Jähriger zusammen mit seiner schwangeren Partnerin Haydee Susana Valor in Mar del Plata, 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Buenos Aires, entführt. Sie wurden in die Marinebasis von Mar del Plata verschleppt, wo ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet worden war. Dort verliert sich ihre Spur. Ihr Schicksal und das des damals noch nicht geborenen Kindes sind bis heute nicht aufgeklärt.
Anahí Marocchi sucht ihren Bruder und ihre Schwägerin noch immer - und fordert Gerechtigkeit und Aufklärung. 2018 kam sie nach Berlin und erstattete zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Anzeige gegen den in Berlin lebenden Deutsch-Argentinier Luis Esteban Kyburg. Der heute 73-Jährige war als Offizier in der Marinebasis in Mar del Plata eingesetzt. Als stellvertretender Befehlshaber einer Kampftauchereinheit auf dem Militärstützpunkt gilt Kyburg als dringend tatverdächtig, an Entführungen, Folter und Mord an 152 Personen beteiligt gewesen zu sein. »In Argentinien wäre er schon verurteilt«, sagt Anahí Marocchi, so wie andere ranghohe Offiziere, die in der Marinebasis eingesetzt waren und wegen Beteiligung an Mord und Verschwindenlassen verurteilt sind. Doch 2013, bevor auch Kyburg vernommen werden sollte, setzte er sich nach Deutschland ab und lebt seitdem straflos in Berlin. In Abwesenheit kann er von der argentinischen Justiz nicht verurteilt werden, und Deutschland lehnte einen Auslieferungsantrag ab. Denn Kyburg hat deutsche Vorfahren und deshalb neben der argentinischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Deutschland liefert seine eigenen Staatsbürger grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU aus.
2015 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Berlin eigenständige Ermittlungen gegen Kyburg wegen Beteiligung an Mord ein. Vielleicht nehmen diese etwas Fahrt auf, seit dessen Aufenthalt in Berlin durch die Recherchen eines argentinischen Journalisten und eine Demonstration durch Kyburgs Wohngegend in Prenzlauer Berg 2020 öffentlich bekannt wurde. Der Leitende Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg bestätigte zumindest Vernehmungen von Geschädigten in Spanien und Skandinavien. Weitere Befragungen in Argentinien würden in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der dortigen Justiz derzeit vorbereitet, sagt er.
Grundsätzlich gehe es nicht nur um den Nachweis einzelner Tathandlungen, sondern um die Einbindung in eine Organisationsstruktur, erklärt Feuerberg: Wenn für den Angeklagten erkennbar war, dass die eigene Handlung dazu beitrug, »dass Menschen in großem Maßstab gefoltert und ermordet werden, dann reicht der Nachweis der Einbindung in diese Struktur«.
Andreas Schüller, beim ECCHR verantwortlich für Völkerstrafrecht, erwartet »den zügigen Abschluss der Ermittlungen und eine baldige Anklageerhebung gegen Kyburg«. Dann könnten auch die Hinterbliebenen als Nebenkläger*innen mit Fragen und Anträgen dazu beizutragen, vielleicht Neues zum Schicksal der Verschwundenen zu erfahren.
Das erwartet auch Omar Marocchis Schwester Anahí: »Es geht um meinen Bruder und um alle anderen«, sagt sie. Die Angehörigen müssten wissen, was geschehen ist, denn der Schmerz der Ungewissheit begleite und quäle sie ihr Leben lang. »Vor allem aber geht es um die Zukunft«, sagt sie und bezieht sich dabei auf die deutsche und die argentinische Gesellschaft, denn: »Diese schrecklichen Taten dürfen nicht straflos bleiben, damit sie sich niemals wiederholen.«
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