- Politik
- 11. September / Entschädigungen
Was ist ein Mensch wert?
Die Entschädigungszahlungen des US-Staates für die Opfer und Hinterbliebenen von 9/11 richteten sich nach den kapitalistischen Marktgesetzen
Kenneth Feinberg wird demnächst 77 Jahre alt. Er ist ein Staranwalt in den USA und kommt immer dann ins Spiel, wenn es um viel menschliches Leid und um viel Geld geht. Als Schlichter handelt er außergerichtliche Vergleiche aus. Sein Büro in Washington liegt nur einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt.
Feinberg wurde berühmt, als er auf Bitten der Regierung einen Entschädigungsfonds für US-Soldaten verwaltete, die durch das im Vietnamkrieg eingesetzte Entlaubungsmittel Agent Orange erkrankt waren. Er schlichtete Streitfälle nach dem Unfall mit der BP-Ölplattform »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko, verwaltete den Opferhilfefonds nach den Bombenanschlägen auf den Boston-Marathon 2013, wurde im Streit um General-Motors- und VW-Herstellerpfusch tätig, nahm den Auftrag des Luftfahrtriesen Boeing an, um die Entschädigung für die Hinterbliebenen der 737-Max-Abstürze zu regeln. Auch die Summen, die der Bayer-Konzern nach dem sogenannten Monsanto-Skandal zahlen muss, sind zu einem guten Teil Feinberg geschuldet.
Das waren unbestritten schwierige Jobs. Doch das, was er als Chef der Opferentschädigung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 leistete, wiegt ungleich schwerer. Er sei nur ein neutraler Mediator, sagte Feinberg selbst über sich, versuche nur, gegnerische Parteien zu einen. Zwingen könne er niemanden, die von ihm vorgeschlagene Lösung zu akzeptieren. Wohl aber mache er allen Beteiligten klar, welche Risiken das US-amerikanische Rechtssystem auf dem Klageweg bereithalte.
Das klingt bescheiden. Und routiniert. Auch emotional abgeklärt? Kaum. Was ihn nachts in kaltem Schweiß aufwachen lasse, seien »die Geschichten der Opfer«, die nach dem Verlust eines Angehörigen zu ihm kommen. Das, so sagte der Jurist, zehre an den Kräften. Man müsse sehr, sehr viel Empathie zeigen und Sensibilität für die emotionale Verletzlichkeit der Menschen, wenn man versuche, eine Rettungsleine zu legen, die Sicherheit gibt. Dabei, so Feinberg, werde man »sehr fatalistisch«, plane »nicht mehr weit voraus«, weil man sieht, wie unvorhersehbare Katastrophen Schrecken und Tragödien verursachen. Und alles nur, weil jemand zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Hinterbliebene und Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 haben aus dem staatlichen Entschädigungsfonds insgesamt mehr als sieben Milliarden Dollar bekommen. So steht es im Abschlussbericht, den Kenneth Feinberg 2004 vorlegte und dabei gegen Kritik verteidigte. »Das amerikanische Volk wollte der Welt zeigen, dass wir denen, die in Not sind, zu Hilfe kommen, dass wir eine Gemeinschaft sind, dass wir einen Weg finden werden, um den Opfern der Anschläge zu helfen.« Das, so Feinberg, sei »Teil des amerikanischen Charakters«. So gesehen war der Fonds aus Sicht seines Chefs ein »uneingeschränkter Erfolg«. Doch, so meint Feinberg auch, werde man nie wieder so einen Weg beschreiten.
In der Tat kann man fragen, warum es keinen solchen Fonds für die Opfer des von einem US-Rechtsradikalen verübten Bombenanschlags in Oklahoma City gab. Und was unterscheidet das Leid von Menschen, die durch einen Hurrikan getroffen wurden, von denen, die in den New Yorker Twin Towers starben? Vielleicht wäre es auch besser gewesen, allen 5560 Anspruchsberechtigen die gleiche Entschädigungssumme auszuzahlen. Das nach 9/11 angewandte differenzierte Verfahren habe viel Unmut erregt.
Wonach bemisst man den Wert eines Opfers? Was »kostet« ein Mensch? Das zu berechnen, sei »nicht schwierig«, sagt der einstige Fonds-Chef. So etwas passiere täglich in jedem Gericht in jeder Stadt Amerikas. Das sei einfach eine »kalte Kalkulation«.
Aus dem 9/11-Fonds wurden Beträge zwischen 250 000 und sieben Millionen Dollar gezahlt. Die durchschnittliche Entschädigungssumme pro Todesfall lag bei etwa zwei Millionen Dollar, für einen körperlichen Schaden bekam man rund 400 000 Dollar ausgezahlt. Steuerfrei. Soweit die Statistik.
Doch wie errechnet man die unterschiedlichen Auszahlungssummen? Man folgte nur der Logik des kapitalistischen Systems. Die Entschädigung war abhängig von der Frage: Wie viel hätte das Opfer in seinem Arbeitsleben verdient? Da gibt es gewaltige Unterschiede zwischen einem Börsenmakler, Anwalt, Wirtschaftsprüfer oder Banker im Vergleich zu einem Polizisten, Feuerwehrmann oder Aushilfskellner. Dennoch: 97 Prozent aller Familien nahmen das jeweils vorgelegte Angebot an, heißt es im Abschlussbericht.
Andere Angehörige von Opfern versuchten ihr Begehren vor Gerichten durchzusetzen. Das führte bisweilen zu seltsamen Urteilen. Beispielsweise urteilte ein New Yorker Bezirksgericht 2012, dass die schiitische libanesische Hisbollah-Miliz, das Terrornetzwerk al-Qaida und die radikalislamischen Taliban in Afghanistan an, 47 Opferfamilien 6048 Milliarden Dollar (rund 4,7 Milliarden Euro) zu zahlen hätten. Auch der Iran wurde »zur Kasse gebeten«. Das Urteil offenbart mehr als eine in den USA typisch Gut-Böse-Weltsicht. Ob die nun Dellen erhält, nachdem US-Präsident Joe Biden – wie im Wahlkampf versprochen – die Freigabe bislang geheimer Ermittlungsergebnisse angeordnet hat? Womöglich kommen dann erneut Vorwürfe gegen Saudi-Arabien hoch. Oder es findet sich Material, das die US-Sicherheitsbehörden belastet.
Obwohl die Fristen zur Anmeldung lange abgelaufen sind, gibt es noch immer Urteile in Sachen 9/11-Entschädigungsforderungen. Die richten sich aber zumeist gegen Zahlungsempfänger, die den Staat schamlos betrogen haben. Erstaunlich viele US-Bürger gaben sich beispielsweise als Ersthelfer aus, die nun angeblich mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen haben. Darunter sind Ex-Polizisten, pensionierte Militärs und einstige Feuerwehrleute. Verurteilt wurden ebenso Anwälte, die ihre Mandaten um beträchtliche Teile der Entschädigung betrogen haben. Das US-Justizministerium veröffentlicht noch immer Anklagen und Urteile, die zumeist hart ausfallen.
Zwei Jahrzehnte nach den grausamen Attentaten sind mit deren Folgen jedoch nicht nur Gerichte beschäftigt. Pünktlich zum Jahrestag startet im Internet ein Spielfilm namens »Worth« (Wert), der auf den Memoiren von Kenneth Feinberg basiert. Die Rechte dafür haben sich der Streamingdienst Netflix sowie die Higher Ground Productions gesichert. Die gehört zum Gutteil dem Ex-Präsidentenpaar Barack und Michelle Obama .
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.