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  • 11. September / Radikalisierung dschihadistischer Gruppen

»Nur schlecht gemanagt«

Aufstieg und Radikalisierung dschihadistischer Gruppen hängen eng zusammen mit den militärischen Interventionen

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 8 Min.

Die rauchenden Twin Towers des New Yorker World Trade Centers nach dem Anschlag am 11. September 2001 warfen viele Fragen auf: Wie konnte das geschehen? Wer hatte das getan? Und warum? Woher dieser Hass, der fast 3000 Menschen in den Tod riss? Bis heute gibt es nicht wirklich befriedigende Antworten darauf, nur die unterschiedlichsten Erklärungsversuche, darunter auch zahlreiche Verschwörungstheorien, die mittlerweile Bibliotheken füllen; eindeutig war dagegen die Reaktion auf das Attentat, das in vielen Köpfen Bilder der Apokalypse aktivierte: Krieg. Gegen Afghanistan und die Taliban, weil diese dem mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge Unterschlupf gewährt hatten und sich strikt weigerten, ihren Gast Osama Bin Laden an US-Präsident George Bush auszuliefern. Manche erklärten diese unnachgiebige Haltung der Taliban und ihres damaligen Anführers Mullah Omar mit dem paschtunischen Verhaltenskodex, dem Paschtunwali: Einen Gast im eigenen Haus liefert man nicht ans Messer!

Essenzialistische Religionsauffassung

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Wer war Osama Bin Laden, dieser bärtige, hoch aufgeschossene Mann, den die USA schon lange im Visier hatten? Für einen Teufel waren seine Gesichtszüge zu sanft, aber die Pläne für den bislang verheerendsten Terroranschlag religiös motivierter Attentäter muslimischen Glaubens entstammten seinem Kopf. Bin Laden ist das klassische Beispiel eines internationalistischen Dschihadisten und damit einer relativ neuen Strömung in der Geschichte des militanten Islamismus; manche Autoren benutzen dafür auch die Bezeichnung Neo-Islamismus und sehen eine Verbindung zwischen dem Aufstieg dieser Strömung und der zunehmenden Globalisierung. Für den französischen Experten des politischen Islams, Olivier Roy, sind zwei Elemente grundlegend für den Neo-Islamismus: seine theologische Schriftgläubigkeit und sein Anti-Okzidentalismus, oder mit anderen Worten: Neo-Islamisten nehmen den Koran und die Traditionen des Propheten Mohammad (Sunna) buchstäblich beim Wort und führen die Auffassung dessen, was ihre Religion ausmacht, auf diesen Textkorpus zurück – ohne Kompromisse.

Dazu kommt eine militante Ablehnung aller Einflüsse aus dem Westen, vor allem kulturelle und politische, die als »Erneuerung« strikt abgelehnt werden, weil sie die Reinheit der religiösen Überlieferung bedrohen. Diese ablehnende Haltung betrifft nicht nur den Westen, sondern auch sozio-kulturelle Phänomene und Strömungen innerhalb des Islams selbst, die als Häresie verworfen werden, weil sie die ursprüngliche Wahrheit der religiösen Botschaft verwässerten: Sufismus, Schia, die verschiedenen theologischen Rechtsschulen, die sich über die Jahrhunderte in der islamischen Welt entwickelt und verbreitet haben.

Gegen den Westen

Die Ablehnung all dessen, was den Westen vermeintlich ausmacht, findet sich schon bei einem der Vordenker des radikalen Islamismus: Sayyid Qutb. Der 1906 in Ägypten geborene Qutb verbrachte nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahre in den USA, um im Auftrag des ägyptischen Bildungsministeriums das US-amerikanische Bildungssystem zu studieren. Er kehrte angewidert vom »American Way of Life« zurück und trat der ägyptischen Muslimbruderschaft bei. Fortan verwarf er alle weltlichen Ideologien, seien es Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie, und lehnte auch Sozialismus und Marxismus ab – in bewusstem Kontrast zur Politik der Annäherung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser an die Sowjetunion.

Der den ägyptischen Muslimbrüdern und seinem Gründer Hassan Al-Banna zugeschriebene Slogan »Der Islam ist die Lösung!« lässt sich gut anwenden auf alle islamistischen Strömungen und insbesondere auf die, die sich implizit oder explizit auf das Theoriengebäude Sayyid Qutbs stützen. In diesem Sinne sei im Islam alles angelegt, was die Gesellschaft und die Menschen brauchen. Radikale Islamisten sehen schlicht keinen Bedarf für Sozialwissenschaften oder Philosophie, da man alles Nötige im Islam finde; der Rest sind Irrwege. Und die Lösung »Islam« erfordere eben eine grundlegende und gründliche Islamisierung beziehungsweise die Rückkehr zu den Wurzeln der Religion, wie sie im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel entstanden. Das schließt aber nicht aus, dass radikale Islamisten sich der Moderne bedienen, insbesondere der Technik.

In der Weltanschauung radikaler Islamisten wird die Religion zu einer Art totaler Ideologie, die alle Lebensbereiche durchdringt, reduziert auf vor allem äußere Merkmale, Symbole sowie Verhaltensweisen, an denen man das »korrekte« Muslim-Sein messen kann: Bart für die Männer, Kopftuch für die Frauen, Einhaltung der täglichen Gebete und der Fastenzeit, Entsagung bestimmter Musik, Tabu des Händeschüttelns mit Frauen, etc. So entsteht eine extrem essenzialistische Form der Religion – bar jeder religiösen sozio-kulturellen Praxis, wie sie Muslime in unterschiedlicher Art und Weise in ihrem Alltag und den jeweiligen Ländern seit eh und je leben. Konvertiten fällt es offensichtlich nicht schwer, sich gemäß dieser islamistischen Praxis wie »gute« Muslime zu verhalten, die strikte Beachtung essenzieller Regeln bis zur Obsession genügt dafür.

Schwelle zur Gewalt

Wann radikale Islamisten den Schritt zur Gewalt tun, ist umstritten. Manche beobachten eine schleichende, aber stetige Radikalisierung von islamistischen Gruppen, die den traditionellen Islam neu und radikal interpretieren und ihn abgrenzen von dem, was die große Mehrheit der Muslime in der Welt unter dem Islam versteht. Daraus resultiert eine bestimmte Vision der Welt mit neuen Strategien und Taktiken, darunter auch Gewalt, um die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben. So hat sich in Afghanistan schon Mitte der 50er Jahre eine islamistische Bewegung an den Universitäten gebildet, und man findet unter den Protagonisten spätere Mudschahedin-Kämpfer gegen die Sowjetunion wie Burhanuddin Rabbani, schreibt die italienische Historikerin Elisa Giunchi in ihrem Buch zur afghanischen Geschichte. Die Entstehung und Entwicklung der Taliban in den 1990er Jahren hingegen vollzieht sich in den Flüchtlingslagern in Pakistan, wohin sich die Afghan*innen gerettet haben vor dem Krieg zwischen der Roten Armee und den von den USA und Pakistan unterstützten Mudschahedin. Dort kamen sie, die oftmals Waisen waren und nicht lesen konnten, mit einem radikaleren Verständnis des Islams zusammen.

Für den linksgerichteten US-Historiker Zachary Lockman von der New York University reicht die Erklärung einer Radikalisierung der islamistischen Gruppen allein nicht aus, um die zunehmende Gewalt und den Terrorismus hinreichend zu erklären. Er findet eine wesentliche Erklärung im Kolonialismus und der hegemonialen Politik insbesondere der USA nach dem Zweiten Weltkrieg: »Ein Teil des Kontextes, den Bin Laden verstand und auszunutzen wusste, ist die Rolle der USA im Mittleren Osten: Eine von autoritären Regimen beherrschte Region, in der wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung und die Fähigkeit der Regime, ihren Bürgern Arbeitsplätze und Bildung und die Aussicht auf ein besseres Leben zu bieten, offensichtlich gescheitert sind, bietet einen Nährboden für solche Anschläge.« Schon in den 1970er und 80er Jahren haben Islamisten versucht, die Regime in Ägypten und Saudi-Arabien zu stürzen, aber sie waren nicht stark genug. Es sei also Bin Ladens strategische Vision gewesen, eine US-Intervention zu provozieren, in der Hoffnung, die Legitimität dieser Regime zu untergraben, sagt Lockman dem »nd«.

Osama Bin Ladens Strategie ging schief

Diese Strategie ging aber nach hinten los. »Bin Laden wollte die USA in die Knie zwingen, indem er sich mit den Anschlägen vom 11. September an die öffentliche Meinung in den USA wandte«, sagt Olivier Roy dem »nd«. »Al-Qaida wollte stark zuschlagen, damit die Öffentlichkeit die US-Regierung zwingt, sich zurückzuziehen aus dem Mittleren Osten.« Modell für Bin Laden sei dabei der Abzug der US-Armee aus Vietnam gewesen.
Die rein militärische Reaktion der USA auf die Anschläge vom 11. September »hat die Lage noch verschlimmert«, sagt Zachary Lockman entschieden. »Der Islamische Staat geht direkt zurück auf die US-Invasion und die Besetzung des Irak und die Reaktion darauf. Es gibt also einen langen historischen Kontext dafür, natürlich die sowjetische Invasion in Afghanistan, die US-pakistanische Zusammenarbeit und was daraus resultierte, die Taliban sind offensichtlich Teil dieser Geschichte.«

Dass derartige Attentate weiterhin möglich sein könnten, schließt Lockman nicht aus: »Es wäre nicht verwunderlich, wenn es an verschiedenen Orten, in Europa, vielleicht in den USA und woanders weitere Terroranschläge gegen Zivilisten gäbe.« Er ist sich aber darin einig mit Olivier Roy, dass der gewaltbereite dschihadistische Islamismus eine Randerscheinung weniger Personen ist. Der 11. September habe junge Menschen weltweit »nicht nur inspiriert, sondern geradezu elektrisiert«, sagte der französische Islamismus-Experte Gilles Kepel gegenüber dem TV-Sender Arte, aber »Al-Qaida führt derzeit ein absolutes Schattendasein«. Der Unterschied zur Zeit vor Bin Laden und dem 11. September ist nach Roy in der Vorstellung zu sehen, »dass man den Westen auf globaler Ebene bekämpfen müsse, und nicht nur im Rahmen eines bestehenden Staats oder einer Region«. Er spricht daher vom »globalen Dschihad«.

Nichts gelernt

Haben die Regierungen etwas gelernt aus den vergangenen 20 Jahren? Zachary Lockman ist sich nicht sicher, ob sich die Sichtweise zur Rolle der USA in der Welt radikal geändert habe. »Ich glaube, die vorherrschende Meinung in den Regierungskreisen ist: Die Invasion war kein Fehler, sondern wurde nur schlecht gemanagt.« Die Bush-Regierung habe sich, anstatt sich auf Afghanistan zu konzentrieren, sofort auf den Irak besonnen. Das sei ein Fehler gewesen. »Viele liberale Intellektuelle in den USA wollen nicht daran erinnert werden, dass sie mit überwältigender Mehrheit die Invasion des Irak unterstützt haben. Später stellen sie fest, dass es ein Fehler war, aber im Allgemeinen stellten sie sich hinter die Bush-Regierung.«

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