Wut und magische Melancholie

Die Rückkehr des Gesangs: Werke von Händel, Bach und Gesualdo beim Musikfest Berlin

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.

Georg Friedrich Händel war gerade einmal 21 Jahre alt und hatte bereits eine vielversprechende Karriere zunächst als Musiker, später als Komponist von mehreren Opern hinter sich, als er zu einer vierjährigen Bildungsreise nach Italien aufbrach. Ihm ging es darum, sich in Venedig, Florenz und Rom mit den neuesten musikalischen Entwicklungen vertraut zu machen. Und dies gelang ihm sehr schnell. Im Juli 1707 wurde die Kantate »Dixit Dominus« aufgeführt mit dem schönen, aktuell auch Wahlkampfgerechten Vers »Setze dich zu Meiner Rechten, bis ich dir deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege«. Und vermutlich im Februar 1708 die prächtige Kantate »Donna, che in ciel di tanta luce splendi« für Sopran, Chor und Orchester, mit der die English Baroque Solists und der Monteverdi Choir unter John Eliot Gardiner ihren gefeierten Auftritt beim Musikfest Berlin begannen.

Diese Kantate erinnert nicht nur an das Fest der Darstellung des Herrn, an dem des Reinigungsopfers gedacht wird, das Maria gemäß der jüdischen Vorschrift 40 Tage nach der Geburt Jesu im Tempel in Jerusalem dargebracht hat, sondern auch an ein schweres Erdbeben, das Rom an dem betreffenden Tag im Jahr 1703 heimgesucht hatte.

Der Papst hatte festgelegt, dass der 2. Februar fortan mit einer besonders feierlichen Dankliturgie zelebriert werden sollte, und es war für Händel, den jungen deutschen Komponisten, der zudem der lutherischen Religion angehörte, eine enorme Ehre, diese Festmusik komponieren zu dürfen. Er schrieb eine feierliche Kantate, in der er sein enormes Talent als Opernkomponist nicht verleugnen konnte: Da klingen die Streicher lautmalerisch gedämpft und geheimnisvoll, wenn von den Sonnenstrahlen die Rede ist, die aus den schwarzen Wolken fallen, und wilde Melodiekaskaden züngeln aus dem Orchester, wenn in der letzten Soloarie aus dem »schrecklichen Höllengrund düstere Flammen ewiger Wut emporlodern«.

Höhepunkt ist die von Ann Hallenberg vorgetragene, zurückhaltende und sich mitunter harmonisch raffiniert in den Himmel windende zweite Arie »Tu sei la bella«. Sie handelt von Maria als dem »schönen, heiteren Stern, der in den Hafen der Gnade weist« - zunächst als ein inniges Bekenntnis: Die Welt bedrängt und voller Schrecken, ausgeschmückt mit chromatischen Wendungen und schließlich zur Ruhe kommenden Harmonien, denn Maria ist »Heil und Hoffnung« – doch dann bricht es heraus, die »Fackel der tobenden Wut« wird von Maria »in einem Meer von Blut« gelöscht, und alles wird gut in einem warmen Durakkord, »hiernieden wie im Himmel, Maria«!

Auch Johann Sebastian Bach war sehr jung, gerade erst 22 Jahre, als er 1707 Urlaub von seiner Tätigkeit im thüringischen Arnstadt nahm, um sich auf eine vakante Organistenstelle in Mühlhausen zu bewerben, wo er sich nicht nur als virtuoser Organist, sondern auch als Komponist von geistlichen Vokalwerken empfehlen wollte. So entstand die Osterkantate »Christ lag in Todes Banden« BWV 4. Der Komposition liegt, außergewöhnlich für Bach, ausschließlich der Text des gleichnamigen Osterliedes von Martin Luther zugrunde. Bach hat eine Art Variationenwerk über den Choral geschrieben, in dem der junge Fugenmeister alle Facetten seines kompositorischen Könnens zeigt. Doch diese Kantate ist alles andere als ein bloßes Virtuosenstück. Bach malt hier eine spannende Erzählung in Musik. Es geht um nichts weniger als den täglichen Kampf zwischen Gott und dem Teufel, also um Leben und Tod.

Eindrucksvoll, wie Bach alle Textwendungen auskomponiert: Wenn der Tod im zweiten Vers »über uns Gewalt nahm« und »uns in seinem Reich gefangen hielt«, dann findet sich das »gefangen« in tiefer Lage, und der höhere Sopran unterschreitet die Altstimme, wird also sinnbildlich gefangen genommen. Als im nächsten Vers berichtet wird, dass Gottes Sohn die Sünde »weggethan« und damit dem Tod »all sein Recht« genommen hat, was in der Zeile »da bleibet nichts denn Tods Gestalt« kulminiert, da erleben wir in dem lebhaften, vorwärtstreibenden Triosatz von Violinen und Tenor eine urplötzlich einsetzende Pause und große Stille bei dem Wort »nichts«. Auch Bach ist Theatralik keineswegs fremd. Luther und Bach spielen alle Varianten des Todes durch – »es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen«, das Leben behält, so will es die christliche Lehre, den Sieg, weil »ein Tod den andern fraß«, was Bach mit in immer kürzeren Abständen einsetzenden Kanonsätzen anschaulich macht.

Allerdings: freiwillig räumt der Tod, der »Boandlkramer«, wie der »Gebeinehändler« im Bayerischen genannt wird, nicht das Feld. Erst wenn das Blut des Osterlamms an »unser Thür« gezeichnet wird, sorgt der Glaube dafür, dass der Tod – Bach verwendet an dieser Stelle einen dramatischen Abwärtssprung mittels einer verminderten Duodezime – besiegt wird und »der Würger uns nicht mehr schaden kann«. Lang lebe der »rechte Osterfladen«, der »alte Sauerteig nicht soll sein«, wie es im schlichten vierstimmigen Schlusschoral heißt. Halleluja!

Wir erleben in dieser Kantate sieben Arten, wie das »Halleluja« gesungen werden kann, eine faszinierender als die andere. Und jede reflektiert den Text der jeweiligen Strophe: Ob mit Tempobeschleunigung oder geradezu ersterbend, ob aufgelockert oder am Schluss feierlich endend. Kein Zweifel, der junge Bach hat da ein Meisterwerk komponiert und, kein Wunder, die Stelle in Mühlhausen erobert. Die Interpretation von Gardiner, den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir beschert dem Musikfest eine Sternstunde.

Der Tod war auch das Thema von Don Carlo Gesualdo da Venosa, gut 120 Jahre früher. Und zwar nicht nur in seinem Fünften Madrigalbuch, das beim Musikfest vorgetragen wird, sondern auch im realen Leben: Nachdem Gesualdo seine Frau mit deren Liebhaber in flagranti ertappt hat, tötet er beide. Aus dem Gerichtsprozess geht er ungestraft hervor, Herrschaftsjustiz eben, damals wie mitunter auch heute.

Jedoch wieviel anders als bei Bach handeln diese Madrigale das ewige Menschheitsthema ab! Hier geht es um Liebe, Schmerz, Todessehnsucht, ja sogar Todeslust, um eine »schmerzensvolle Freude«. Der Ich-Erzähler weint und seufzt, »kann nicht mehr atmen vor Tränen«, die schöne Flamme verzehrt ihn, er fühlt sich »nur zum Schmerz geboren« und liebt seine Qualen. Sein Wunsch ist nichts andres »als die Begierde zu lieben Euch oder zu sterben«. Eine geheimnisvolle und magische Lehrstunde in Melancholie und in der Hingabe an alle Qualen der Liebe, zwischen Freude und Schmerz, Lust und Trauer. Zwischen Leben und Tod.

Diesen Konkurs des Leidens durchmisst Gesualdo mit einer atemberaubenden polyphonen Musik voller unerwarteter Harmonien, quälender Dissonanzen und gewagter chromatischer Linien. Die Musik ist heftig und wild, sie will alles, und zwar sofort. Es gibt nur höchste Expressivität und reichste Affekte – oder eben die Leere, die Stille. Aldous Huxley hat Gesualdos Madrigale als »eine Art musikalisches Wunder« beschrieben, »bei dem scheinbar nicht zu vereinbarende Elemente in einer höheren Synthese versöhnt werden«. Das Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe bringt diese besondere emotionale Klangwelt Gesualdos zum Leuchten.

Beim Verlassen dieser zwei Konzerte mit alter Musik fällt auf: Wie wunderbar, wieder Gesang zu erleben! Wie glücklich, hervorragende Solist:innen und Chöre zu hören! Wie sehr wir das Singen in der Coron-Ära vermisst haben! Doch es ist nicht nur die Pandemie, die dem Gesang zusetzt – auch beim Umbau öffentlich-rechtlicher Klassikkanäle soll er, wie Habakuk Traber im Journal des Musikfests mit einigem Recht konstatiert, »aus dem alltäglichen Programmleben in Reservate spezieller Sendeplätze verbannt werden«. Die neue Ideologie von der »Durchhörbarkeit« des Radioprogramms, der die Hörfunk-Entscheider anhängen, opfert anspruchsvollen Gesang auf dem Altar von Unterhaltung und Frohsinn. Insofern können diese beiden hervorragenden Chorkonzerte des Musikfests auch als ein entschiedenes Statement für anspruchsvolle Musik und gegen banale Wohlfühl-Klangtapeten gehört werden.

Das Konzert des Collegium Vocale Gent ist bis zum 19.9.2021 auf »Berliner Festspiele on demand« zu sehen.

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