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Zynismus gegenüber Ungleichheit
Laut Jahresgutachten des Paritätischen Wohlfahrtsverbands stärkt die Politik der Regierung nicht den sozialen Zusammenhalt
Der Paritätische Wohlfahrtsverband (Der Paritätische) zieht in seinem Jahresgutachten 2021 eine ernüchternde Bilanz hinsichtlich der Entwicklung des sozialen Zusammenhalts in Deutschland. »Wir messen die Politik nicht an irgendwelchen Utopien, sondern an den Zielen, die sie sich selbst gesetzt hat«, sagte der Verbandsvorsitzende Rolf Rosenbrock am Dienstag auf einer Pressekonferenz. Und von diesen Zielen sei die scheidende Bundesregierung vielfach weit entfernt geblieben, »obwohl diese allesamt nicht mal sehr ambitioniert formuliert waren«, betonte Rosenbrock.
So habe sich die Bundesregierung beispielsweise zuerst auf die Umsetzung der UN-Agenda 2030 auf nationaler Ebene verpflichtet, nach der Armut den Mangel an Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe darstellt, die für die Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich sind, und die deshalb beseitigt werden müsse. In ihrer Nachhaltigkeitsstrategie verminderte die Bundesregierung dieses Ziel jedoch und wollte Armut nur noch »begrenzen«, heißt es in der Studie. »Und das vor dem Hintergrund, dass in Deutschland nach wie vor mehr als zwölf Millionen Menschen von Einkommensarmut betroffen sind«, erläuterte Rosenbrock. Zudem seien mit 20,7 Prozent so viele Rentner und Rentnerinnen wie nie zuvor von Armut betroffen, machte der Verbandsvorsitzende auf die besonders schlechte Lage bei der Altersversorgung aufmerksam.
Eine weitere drängende Herausforderung für eine moderne Gesellschaft ist laut der Studie die Gleichstellung der Geschlechter. »Geschlechtsspezifische Unterschiede manifestieren sich dabei in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Bildungssystem oder dem Arbeitsmarkt und gelten als ein Zeichen für soziale Ungleichheit«, heißt es dort. Um bewerten zu können, inwiefern in Deutschland bestehende geschlechtsspezifische Unterschiede eine Gefährdung des sozialen Zusammenhalts darstellen, konzentriert sich Der Paritätische im Rahmen der Studie auf den Teilbereich materielle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen.
Grund dafür sei, dass der Beseitigung materieller Ungleichheiten auch in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung eine zentrale Funktion für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts zugeschrieben wird. Nichtsdestotrotz erzielten Frauen im Jahr 2020 noch immer einen um 18 Prozent niedrigeren durchschnittlichen Bruttostundenverdienst als Männer. Das von der Bundesregierung formulierte Ziel für 2020 lag bei einem Verdienstabstand von zehn Prozent, dieses Niveau sollte zudem bis 2030 gehalten werden.
Rosenbrock wies beim Thema Geschlechterungleichheit auch darauf hin, dass der sogenannte Gender Pension Gap, also die Differenz der durchschnittlichen eigenen Alterssicherungseinkommen zwischen Frauen und Männern, eine geeignete Maßzahl sei. Demnach betrage diese im Berichtsjahr 2019, für das die aktuellsten Daten vorliegen, 49 Prozent. Damit haben Frauen ein um 49 Prozent niedrigeres Alterssicherungseinkommen als Männer. »In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass die durchschnittlichen Bezüge von Frauen im Alter von mindestens 65 Jahren bei 970 Euro, jene für Männer bei 1920 Euro lagen«, rechnete Rosenbrock vor. Somit seien im Alter die Unterschiede noch größer als im Erwerbsleben.
Dort sei die Erwerbstätigenquote zwar gestiegen, aber auch hier kritisiert Der Paritätische die mangelhafte Zielformulierung der Regierung. Diese sage nämlich nichts über die Qualität der Arbeit aus, also darüber, dass jeder fünfte abhängig Beschäftigte für weniger als 11,50 Euro pro Stunde arbeite. Dies betreffe über sieben Millionen Menschen in Deutschland. »Und es sind gerade die Menschen mit geringen Einkommen, die dazu noch viel zu viel für ihr Grundrecht auf Wohnen ausgeben müssen«, verknüpfte Rosenbrock gleich das nächste große Problemfeld.
Letztlich werde laut Rosenbrock eines deutlich: »Die Befunde zeigen, dass die Stärkung des sozialen Zusammenhalts von der Politik zwar immer groß beschworen, in der politischen Praxis aber nicht umgesetzt wird.« Auch die Covid-19-Pandemie, die wiederum gezeigt habe, dass gerade die armen Menschen ein höheres Risiko tragen, habe nicht zu mehr Anstrengungen für mehr soziale Gerechtigkeit geführt.
»Wir werden die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl genau beobachten und unsere Forderungen immer wieder konsequent anbringen«, versprach der Vorsitzende des Paritätischen. Unter anderem fordert der Verband eine »sanktions- und angstfreie Grundsicherung« und bekräftigt auch noch mal seine Forderung nach einer monatlichen Zusatzzahlung für die Fortdauer der Pandemie in Höhe von 100 Euro für alle Menschen, die existenzsichernde Leistungen beziehen. »Die kürzlich beschlossene Anhebung des Hartz IV-Satzes um drei Euro ist dagegen von Zynismus nicht mehr zu unterscheiden«, machte Rosenbrock klar.
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