Merkels Hypothek

Welches Erbe hinterlässt die Klimakanzlerin?

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 6 Min.

Der 20. September 2019 war ein Freitag, ein schöner Herbsttag in Deutschland und der Tag des dritten Klimastreiks von Fridays for Future. Weltweit gingen Millionen Menschen für mehr Klimaschutz auf die Straße. Das Zentrum Berlins war fest in den Händen von 250.000 Demonstranten.

Am Vortag war im Kanzleramt das so genannte Klimakabinett zusammengetreten. Nach Jahren des Zögerns sollte ein Klimapaket beschlossen werden, also endlich ein ambitioniertes Klimaschutzprogramm. Aber der Abend und die Nacht des 19. und der Vormittag des 20. September vergingen, ohne dass aus dem Kabinett etwas nach außen drang. Erst zum Nachmittag wurden die Medien ins so genannte Futurium am Spreebogen gebeten, ein Museum für das Leben in der Zukunft. Dort sollte das Klimakabinett seine Klimabotschaft verkünden. Die politische Choreografie war perfekt ausgedacht.

Wenn es je einen geschichtlichen Moment gab, an dem Angela Merkel ihr verblasstes Image als Klimakanzlerin hätte wiedergewinnen können, so war es dieser Auftritt: Tausende Aktivist*innen vor der Tür, das Klimakabinett hinter sich und die versammelte Hauptstadtpresse vor sich.

Fridays for Future: In 471 Orten in Deutschland wird es am 24. September einen Klimastreik geben

Und als eine Art Weltklimakanzlerin begann Merkel auch: Sie stellte sich und ihr Klimakabinett auf eine Stufe mit Greta Thunberg. Tage zuvor hatte die schwedische Klimaaktivistin den US-Kongress aufgefordert, sich hinter die Erkenntnisse der Wissenschaft zu stellen: »I want you to unite behind the science.« Als Naturwissenschaftlerin habe sie das beeindruckt, begann Merkel im Futurium. Auch mit den noch vorzustellenden Beschlüssen verortete Merkel ihr Kabinett auf den lichten Höhen der Klimawissenschaft. Wer die wissenschaftlichen Meinungen über die Erderwärmung ignoriere, handele nicht zukunftsträchtig, verkündete sie.

Dann aber sagte Merkel den Satz, der in Biografien neben ihrem Wir-schaffen-das-Satz aus der Flüchtlingskrise 2015 stehen müsste: »Politik ist das, was möglich ist.« Und dann wickelte sie das Klimapaket aus.

Opposition, Wissenschaft und Klimabewegung zerrissen das Ergebnis des Merkel-»Möglichen« sogleich: Unwirksam! Unzureichend! Das Klimagesetz wurde später vor dem Bundesverfassungsgericht einkassiert. Die angeblich auf Klimawissenschaft gebaute Politik verletzte also garantierte Grundrechte. Was für ein Desaster.

Vom Scheitern des 20. September sollte sich Merkel nicht mehr erholen. Das Bild von der Klimakanzlerin war ein für allemal passé. Schaut man auf die 16 Jahre ihrer Kanzlerschaft zurück, speist sich Merkels Klimabilanz im Wesentlichen aus drei Vorgängen: dem massiven Rückgang der Braunkohleförderung Ost nach der Wende, dem Ausbau der Erneuerbaren Energien ab 2000 sowie dem beginnenden Kohleausstieg.

Nach 1990 sank in den beiden ostdeutschen Revieren die jährliche Förderung von Braunkohle bis zum Jahr 2000 um rund 170 Millionen Tonnen. Das entspricht ungefähr einer CO2-Einsparung von 190 Millionen Tonnen pro Jahr und immer noch rund 40 Prozent der von Deutschland bis dato insgesamt erzielten CO2-Senkung. In den ersten zehn Jahren nach der Wende sparte die Ostkohle so viel CO2 ein, wie Merkel dann ab 2005 in 16 Jahren Regierungszeit erreichte. Und das war im Grunde nicht ihr Verdienst.

Denn das für den Boom der Ökoenergie zuständige Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) war von der ersten rot-grünen Bundesregierung um das Jahr 2000 herum in Kraft gesetzt worden. Der Öko-Anteil am Strommarkt könnte heute, sagen Experten, schon bei 80 Prozent und nicht erst bei knapp 50 Prozent liegen – wäre die Energiewende unter der Klimakanzlerin nicht ausgebremst geworden. In ihrer Amtszeit schlug Merkel mehrere energiepolitische Volten. 2010 wurde in ihrer schwarz-gelben Legislatur beschlossen, den rot-grünen Beschluss zum Atomausstieg aufzuheben und die Laufzeit der deutschen AKW zu verlängern. Atomstrom sei, wurde ein Öko-Grund an den Haaren herbeigezerrt, eine Art »Brückentechnologie«, bis die Erneuerbaren genügend Energie liefern würden.

Kein Jahr später – nach dem Fukushima-GAU, der folgenden öffentlichen Debatte um Atomsicherheit und einem drohenden Machtverlust bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg – vollführte Merkel den Rückwärtssalto. Einige ältere Meiler gingen sofort vom Netz. 2022 soll die deutsche AKW-Ära enden. Aber mit dem Wegfall der »Brückentechnologie« tat sich, nach Lesart der Union und der Stromkonzerne, ein noch größere »Stromlücke« auf. Statt das klimapolitisch Gebotene zu tun und die »Lücke« mit Erneuerbaren und Effizienz zu schließen, gingen – heute schwer vorstellbar – noch 2012 Braun- und Steinkohlekraftwerke mit mehreren Tausend Megawatt ans Netz. Kalkulierte Laufzeit 30 bis 40 Jahre.

Das passte nicht mehr zur internationalen Klimapolitik. Kritiker der Kanzlerin stellen ja oft die rhetorische Frage, ob Merkel als ehrlich promovierte Physikerin nicht ein Verständnis für den Klimawandel und dessen Schärfe habe. Nimmt man Merkels offizielle Äußerungen, ist dieses Verständnis durchaus vorhanden: So warnte sie nach dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen 2009, man werde eher zu einem Temperaturanstieg von drei bis vier Grad kommen. »Wir können uns aber maximal zwei Grad erlauben«.

Ende 2015 unterzeichnete Deutschland das Pariser Klimaabkommen und sonnte sich im diplomatischen Erfolg. Experten meinen, der Pariser Vertrag erlege Deutschland die Pflicht auf, eigentlich schon 2035 klimaneutral zu sein. Das internationale Tun der Klimakanzlerin kollidierte damit endgültig mit der nationalen Antiklima-Politik. Folge des offensichtlichen Widerspruchs: Der Kohleausstieg rückte auf die politische Tagesordnung. Diese Arbeit überließ Merkel ab 2018 der Kohlekommission, erstmals einem zivilgesellschaftlichem Gremium.

Ein geschickter Schachzug, der eigentlich zu Merkel passt. Denn das, was möglich ist in der Politik, richtet sich bei ihr nach den Mehrheiten, um die in Demokratien gekämpft werden müsse, fast immer auch mit einem damit verbundenen Ausgleich von Interessen, sagte sie jedenfalls erst kürzlich wieder in ihrer Rede zum 50-jährigen Jubiläum von Greenpeace. Der Hinweis auf nötige Mehrheiten ist bei Merkel geradezu omnipräsent, sagen professionelle Deuter ihrer Politik. Dass sie aber selbst, im Wissen um die Gefahren des Klimawandels, um Mehrheiten für eine ambitionierte Energie- und Klimapolitik gekämpft hätte oder diese wenigstens respektierte – davon kann keine Rede sein.
So ließ sie zu, dass ihr Wirtschaftsminister das Versprechen der Bundesregierung brach, den Kohlekompromiss eins zu eins umzusetzen. Gegenüber der Wirtschaft legte Merkel stets den Schonwaschgang ein. Atom- und Kohleausstieg wurden den Konzernen mit Milliardenentschädigungen vergoldet und die Industrie mit Strompreisrabatten und kostenlosen Emissionsrechten versorgt.

Merkels Kabinette gelten als klimapolitische Handlanger von VW, Daimler und BMW. Strengere Grenzwerte wurden blockiert oder entschärft. Nach der Finanzkrise durfte die Autobranche dank der staatlichen »Umweltprämie« ihre überzähligen Diesel losschlagen, die sich Jahre später im Strudel des Abgasskandals wiederfanden. In Merkel Regierungszeit wurden keine umweltschädlichen Subventionen abgebaut und weder das Diesel- noch das Dienstwagenprivileg angetastet. Fuß- und Radverkehr fristeten ein Randdasein, die Privatisierung der Bahn wurde erst in letzter Minute gestoppt.

Inzwischen wissen wir ziemlich gut, wer all die Jahre seine Finger im Spiel hatte: die Kohle- und Autolobby zusammen mit dem Netzwerk, das sich um den CDU-Wirtschaftsrat und die üblichen Klimaschutzbremser rankt. Nicht zu vergessen die Ministerpräsidenten der Kohleländer, die Merkel von Fall zu Fall ungeniert erpressten.
Nicht Merkel setzte die Schranken in der Klimapolitik – diese wurden ihr gesetzt. Im September 2019 war der Spielraum schließlich so gering geworden, dass im Futurium nur mehr das Merkel-Mögliche herauskommen konnte – das Klimapaketchen.
So wurde wertvolle Zeit, um dem Klimawandel rechtzeitig zu begegnen, verschenkt. Die scheidende Kanzlerin hinterlässt eine schwere Hypothek.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!