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Eine Sache von Jüdinnen und Juden
Die »haltlose Unterstellung« ist nicht haltlos: Die Czollek-Biller-Debatte ist ein Kampf um symbolisches Kapital
Obwohl die Debatte um den Streit zwischen den beiden Schriftstellern Maxim Biller und Max Czollek, in den kurz darauf auch der Historiker Michael Wolffsohn, der Journalist Jacques Schuster, zuletzt auch die Schriftstellerin Nele Pollatschek eingegriffen haben, inzwischen im Abklingen begriffen ist, sei an dieser Stelle aus der Perspektive eines beobachtenden Teilnehmers, nämlich des Autors dieser Zeilen, der Versuch einer gesellschaftstheoretischen Analyse versucht.
Zunächst aber sei daran erinnert, dass sich zuletzt 278 Personen aus Literatur, Kunst, Journalismus und Wissenschaft in einem offenen Brief mit Max Czollek solidarisiert haben: mit der Begründung, dass ihm »auf Basis einer haltlosen Unterstellung seine jüdische Identität abgesprochen wird«. Weiter heißt es: »Wir – jüdische und nicht-jüdische Kolleg*innen – können nicht hinnehmen, dass ein engagierter Befürworter einer pluralistischen Gesellschaft unter diesem Vorwand [tatsächlich hat Czollek weder einen jüdischen Vater noch eine Jüdische Mutter, M.B.] diskreditiert werden soll.«
Der Autor dieser Zeilen hat, obwohl mit Czollek gut bekannt, diesen Offenen Brief nicht unterschrieben, da die Behauptung, es werde ihm aufgrund einer »haltlosen Unterstellung« seine jüdische Identität abgesprochen, schlicht und ergreifend nicht zutrifft. Denn das, was hier als »haltlose Unterstellung« bezeichnet wird, ist nicht mehr und nicht weniger als Ausdruck der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, das sowohl von orthodoxen als auch von liberalen Rabbinerinnen und Rabbinern geteilt wird. Das liberale Judentum immerhin hat sich dazu durchgerungen, Kindern jüdischer Väter, die ihre Kinder jüdisch erzogen, nicht nur gezeugt haben, zum Zeitpunkt ihrer religiösen Volljährigkeit im Alter von zwölf beziehungsweise 13 Jahren einen deutlich erleichterten Übertritt zu ermöglichen.
Man mag die Jahrtausende alte Regel, dass nur Kinder von Jüdinnen oder förmlich Konvertierte jüdisch sind, für falsch halten und als Mitglied der jüdischen Glaubensgemeinschaft für andere Prinzipien eintreten, indes: haltlos ist diese Norm nicht. Man mag das Judentum als Kultur, Ethnie, als Schicksalsgemeinschaft – oder, wie der Autor dieser Zeilen –, denn doch als Religion ansehen: welche dieser Bestimmungen und Definitionen zutrifft, ist in erster Linie Angelegenheit von Jüdinnen und Juden.
Vor diesem Hintergrund – daran ist hier zu erinnern – war es nicht Maxim Biller, sondern Max Czollek selbst, der die Debatte, genauer den Streit eröffnet hat. Hat er doch selbst am 20. Juli des Jahres in einem Tweet geäußert: »Für Maxim Biller bin ich übrigens kein Jude. Vielleicht sollten wir auch mal über inner-jüdische Diskriminierung sprechen.« Erst als Reaktion auf diesen Tweet hat dann Biller in der »Zeit« seine zum Teil ebenso gehässige wie ehrabschneiderische Charakterisierung Czolleks veröffentlicht.
Gelegentlich ist es sinnvoll, einen Schritt zurückzutreten und – wie oben angekündigt – den Versuch zu unternehmen, eine distanzierte Beobachterperspektive einzunehmen.
Dann aber lässt sich die um Czollek geführte Debatte mit dem vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelten Begriff des »kulturellen Kapitals«, genauer des »symbolischen Kapitals« deuten. Demnach äußert sich gesellschaftliche Ungleichheit nicht nur durch die ungleiche Verteilung von materiellem Reichtum, also von ökonomischem Kapital, sondern auch und zumal durch die ungleiche Verteilung von sozialem Kapital, d. h. von Beziehungen und – nicht zuletzt – von kulturellem Kapital.
Dieses Kapital existiert in Form von kulturellen Gütern, also in Form von Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. ihre Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben – es grenzt nach Bourdieu an kulturelles (beziehungsweise »inkorporiertes«) Kapital, das sich auf eine bestimmte Körpergebundenheit, den körperlichen Habitus, zurückführen lasse.
»Symbolisches Kapital« aber ist gemäß einer lexikalischen Definition von Wikipedia Inbegriff der »Chancen, die zur Gewinnung und Erhaltung sozialer Anerkennung führen, oder die Macht, diese soziale Anerkennung durchsetzen zu können, und zwar primär ohne Einsatz von Geld. Erscheinungsformen des symbolischen Kapitals sind etwa Vertrauenswürdigkeit, Reputation, Prestige oder (im Kontext vorindustrieller Gesellschaften) Ehre, ferner das Tragen von ererbten Titeln, verliehenen Ehrenzeichen und im religiösen Bereich eine zur Schau gestellte Rechtgläubigkeit«.
Die vielfältigen, gegenwärtig geführten Diskussionen um kulturelle und ethnische Identitäten, die sich etwa im absurd anmutenden Streit darüber zeigen, ob heterosexuelle Schauspieler Schwule spielen beziehungsweise weiße Synchronsprecher die Stimmen schwarzer Darstellerinnen im Film sprechen dürfen beweist, wie aktuell diese auf »wokeness« basierenden Debatten sind: Erinnert sei nur daran, dass eine Grünen-Politikerin in Berlin sich tatsächlich dafür entschuldigen musste, bekannt zu haben, dass sie als Kind auf die Frage, was sie denn einmal werden wolle, »Indianerhäuptling« geantwortet habe.
In dieser Perspektive lässt sich festhalten, dass in einem Deutschland, das vor nur knapp achtzig Jahren alle Jüdinnen und Juden auf der Welt ausrotten wollte – und sechs Millionen von ihnen ermordet hat – Jüdinnen und Juden insofern über zugeschriebenes symbolisches Kapital verfügen, als ihnen als Überlebenden oder Nachkommen von Überlebenden eine besondere Sensibilität und Vertrauenswürdigkeit mit Blick auf menschenfeindliche Aussagen, Haltungen oder Praktiken zugeschrieben wird.
Dass daraus jedenfalls keine einhellige Beurteilung politischer Praktiken folgt, wird übrigens an den endlosen Debatten darüber deutlich, welche Form der Kritik an gegen Palästinenser gerichteten Maßnahmen israelischer Regierungen den Tatbestand von »israelbezogenem Antisemitismus« erfüllen. In der Causa Czollek sprechen ihm seine Gegner genau diesen rechtmäßigen Besitz von symbolischem Kapital ab, und verfügen dabei über einen gewissen Vorschuss, als sie selbst über dieses symbolische Kapital verfügen, während die meisten seiner nicht-jüdischen Fürsprecher*innen insofern in einer etwas ungemütlicheren Situation sind, als sie über genau dieses symbolische Kapital nicht verfügen.
Mehr noch: da sie nun in den meisten Fällen auch nicht zur jüdischen Gemeinschaft gehören, haben sie auch kein legitimes Mandat, über derlei innerjüdische Fragen zu befinden; genauso wenig, wie es nicht in der Vollmacht von Atheisten liegt, sich an der innerkatholischen Debatte, ob Frauen das Priesteramt bekleiden sollen oder nicht, zu beteiligen.
Nicht zuletzt aber sei darauf verwiesen, dass Jüdinnen und Juden als die Einzelnen, die sie sind, politisch keineswegs klüger sind als andere auch. Das hat nicht zuletzt der Fall der vom WDR geschassten Moderatorin Nemi el Hassan gezeigt, wo kundgetan wurde, dass ihre Entschuldigung für die Teilnahme an einer antisemitischen Al Quds-Demonstration vor Jahren dann akzeptiert würde, wenn auch der Zentralrat der Juden diese Entschuldigung annimmt.
Tatsächlich hatte Josef Schuster gesagt, dass es wichtig sei, sich objektiv mit der Frage zu befassen, ob sie trotz ihrer Teilnahme an dem Marsch als WDR-Moderatorin geeignet wäre. »Der öffentlich-rechtliche Sender trägt eine hohe Verantwortung, niemanden auf dem Bildschirm zu präsentieren, der Israel-Hass und Antisemitismus verbreiten könnte.« Dies müsse auch bei El-Hassan gesichert sein. So sehr dem in der Sache zuzustimmen ist, so sehr ist doch darauf zu bestehen, dass zu dieser Frage eine objektive Antwort möglich sein muss, die nicht davon abhängen kann, ob eine Institution oder Person des symbolischen Kapitals, jüdisch zu sein, teilhaftig ist oder nicht.
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