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Flucht, die nie vorbei ist
Die aktuellen Nachrichten aus Afghanistan retraumatisieren viele von dort Geflüchtete
Einen Tag nach den »Superwahlen« in Berlin kam der junge Afghane, weil er Hilfe brauchte, bei seinem Antrag auf ergänzendes Hartz IV. Keine 480 Euro Ausbildungsvergütung bekommt der junge Mann dafür, dass er jeden Tag um 5.30 Uhr aufsteht, einmal durch die ganze Stadt fährt, um dann bis 16 Uhr in seinem Ausbildungsbetrieb zu lernen, unter hohem Druck mühsam erlerntes Fachwissen anzuwenden. Trotz anhaltender somatischer Schmerzen, trotz der Schlafstörungen, die ihn schon plagen, seit er im Jahr 2015 als 15-Jähriger nach monatelanger Flucht durchs vordere Asien und durch Europa nach Berlin kam.
Für viele Geflüchtete aus Afghanistan waren die vergangenen Wochen und Monate retraumatisierend. Die Nachrichten aus der Heimat bringen die Angst zurück. Seitdem Talibankämpfer das Dorf seiner Eltern zerstört haben, hat der junge Geflüchtete in Berlin wieder schlaflose Nächte. Seit er nicht weiß, ob seine Mutter und seine Geschwister bei den Verwandten in der Stadt ihrer Wahl sicher sind. Der bereits verstorbene Vater hatte vor Ort für die ehemalige afghanische Regierung gearbeitet.
Wenn der junge Berliner um 17.30 Uhr wieder in der Wohnung angekommen ist, die er nur noch bis zum Ende des Jahres bewohnen darf, fängt er an zu lernen, für die Deutsch-Nachhilfe und für die Berufsschule. Er kocht sich etwas, was er allein isst, während er auf das Handy schaut. Die Nachrichten aus Afghanistan, in denen ihn Verwandte fragen, ob er ihnen helfen kann, das Land zu verlassen, werden allmählich weniger. Dann kommt wieder die Nacht, in der er nicht gut schläft.
In den Nabelschauen und Niederlagen der Wahlen kommen Menschen wie er nicht vor. Zur Frage, ob ihn das Ergebnis der Stimmenauszählung interessiere, erklärt er: »Wenn sie uns nur nicht abschieben.« Am selben Tag, an dem der junge Handwerksauszubildende die Bürokratie sortiert, die ihm das Leben noch schwerer macht, stirbt ein 16-jähriger Iraker an der polnisch-belarussischen Grenze nach einem Pushback durch polnische Grenzpolizisten, schreibt die polnische Zeitung »Gazeta Wyborcza«.
Einen weiteren Tag danach rühmt sich die polnische Grenzpolizei auf ihrem Twitter-Account eines neuen »Rekords«: 473 Menschen habe sie am Grenzübertritt gehindert oder zurückgetrieben (Pushback). »Geflüchtete, mit denen wir sprechen, erzählen, dass es Massengräber in den Wäldern gibt« - sagt Piotr Skrzypczak von der Flüchtlingshilfsorganisation Homo Faber im Interview mit der katholischen Monatszeitschrift »Wiez «über die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze. Skrzypczak berichtete von einem Hilfseinsatz für eine Gruppe von Menschen in den dortigen Wäldern, in denen nun schon der Frost einsetzt: »Sie waren schon mehrere Tage im Wald unterwegs, sie hatten Durst, Hunger, froren und waren extrem abgemagert.«
Die Geschwister Arman und Waheb, die ihren Nachnamen nicht in einer Zeitung lesen möchten, wurden von den polnischen Grenzern nicht erwischt. Die Brüder aus Afghanistan haben es über Belarus nicht nur bis nach Polen, sondern bis Deutschland geschafft. In Polen zunächst in einem Abschiebegefängnis eingesperrt, gelang es ihnen nach der Freilassung, nach Deutschland weiterzureisen. Zusammen mit ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern lebten sie einige Monate in einer brandenburgischen Flüchtlingsunterkunft, lernten Deutsch, die Kinder gingen zur Schule.
Dort, wo sie versuchten, gemeinsam mit ihrer Familie etwas Sicherheit zu finden, brach das Trauma der Flucht dann in Form von deutschen Grenzpolizisten in der Woche vor den »Superwahlen« erneut über sie herein: Abschiebung nach Polen, weil das EU-weit geltende Dublin-Abkommen das Land der Erstregistrierung als zuständig für die Menschen erklärt. Pushback auf Deutsch!
Menschen fliehen nicht nur vor dem Krieg in Ländern, in denen sie geboren worden. Sie fliehen vor denjenigen, die sie bedrohen, egal wo. Vor denjenigen, die den Tod von Menschen nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern ihn zu verantworten haben. Es gibt so viele Gründe, aus Afghanistan zu fliehen: die Islamisten, den Terror, die Angst, die gebrochenen Versprechen. Nichts kann es rechtfertigen, die Menschen zurückzuweisen.
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