- Kultur
- Jüdisches Leben in Sachsen
Oh Sachsen, deine jüdische Seele
»Perspektiven Jüdischer Geschichten und Gegenwarten« könnten Beginn einer vertieften Begegnung Dresdens mit seiner jüdischen Vergangenheit und Bevölkerung sein
Als im November 2019 der Raub kostbarer Diamanten aus den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden weltweit für Schlagzeilen sorgte, äußerte sich Ministerpräsident Michael Kretschmer schockiert: »Nicht nur die Sammlungen wurden bestohlen, sondern wir Sachsen!« Über Jahrhunderte hätten Menschen des Freistaates die Werte des Museums »hart erarbeitet«, und die Geschichte Sachsens könne man ohne das Grüne Gewölbe »nicht verstehen«. Tatsächlich bot eines der gestohlenen Kleinode, der Bruststern des polnischen Ordens des Weißen Adlers prunkvolle Illustration kurfürstlicher Herrschaftslegenden. Zu präzisieren, dass August der Starke beispielsweise den jüdischen Bankier Issachar Berend Lehman einst an seinen Hof holte und dieser auch Edelsteine für das Grüne Gewölbe besorgte, hätte Kretschmer aber gut angestanden.
Von ähnlich emotionaler Würdigung durch den Ministerpräsidenten kann manch sächsischer Aufarbeitungsort im prekären Engagement, Mythen und Geschichtsklitterung mit Fakten und Zeugnissen zu beantworten, ohnehin nur träumen. In die engere Auswahl zur Kulturhauptstadt 2025 hat es das barocke Dresden dann leider auch nicht geschafft.
Für das Stadtmuseum, quasi die museale Visitenkarte der Elbmetropole, interessierten sich gebürtige Dresdner und Repräsentanten schon vor der Pandemie vergleichsweise wenig. Während Einrichtungen wie das Hygiene-Museum in der Nachwendezeit modernere Rezeptionsvarianten gerade für junge Menschen etablieren konnten, erfuhr die Dauerausstellung des Stadtmuseums im Landhaus seit vielen Jahren kaum Aktualisierungen. Es knarrt und riecht, der Rest ist Geschichte. Sachsen im Allgemeinen und der Dresdner im Besonderen begeistern sich durchaus für Historie. Aber leicht verdaulich und etwas heroisch möchte sie doch bitte sein.
»Was haben wir hier eigentlich an regionalen jüdischen Berührungspunkten?«, fragte sich Christina Ludwig, 1988 im Vogtland geboren, als sie, aus dem Naturalienkabinett Waldenburg abgeworben, Anfang April 2019 die Leitung des Dresdner Stadtmuseums übernahm. Anlässlich des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« sah sie die ihr anvertraute Einrichtung in der Verantwortung und jede Menge Staub auf wiederholten Lippenbekenntnissen. Sie beauftragte den Dresdner Historiker Daniel Ristau, Jahrgang 1980, mit dem Kuratieren eines umfassenderen Blicks auf sächsische Erzählungen.
Die vor wenigen Tagen auch in Anwesenheit der Beigeordneten für Kultur und Tourismus, Annekatrin Klepsch (Linke), eröffneten »Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten« könnten der Beginn einer vertieften Begegnung Dresdens mit seiner jüdischen Vergangenheit und Bevölkerung sein. Die Anerkennung jüdischer Einflüsse erweist sich hier bis heute als dürftig, ja, sie sind sogar weitestgehend unbekannt. Dass jemand wie Ristau die jüdische Geschichte Sachsens ebenso erforscht wie die der sächsischen NSDAP, tut dringend not. Dass sich Sachsens Bürger selbst damit auseinandersetzten, wäre förderungswürdig. Wie das aussehen kann, zeigten zum Beispiel Schüler des Dresdner Tschirnhaus-Gymnasiums, als sie der Familiengeschichte einer Mitschülerin nachgingen und darüber einen Film drehten.
260 Replikate der bislang 300 für Dresden initiierten Stolpersteine wurden im Treppenaufgang des Stadtmuseums ausgelegt, Objekte der Dauerausstellung umsortiert und per Texttafel um ihren jeweils jüdischen Kontext ergänzt. Das Modell der von Gottfried Semper erbauten Alten Dresdner Synagoge steht nun als Leihgabe aus Frankfurt am Main in der Ausstellung, ebenso Gegenstände, von deren jüdischer Anbindung heute kaum jemand weiß. Zum Programm der Intervention unter dem etwas sperrigen Titel »Rethinking« gehören begleitende Führungen, Lesungen sowie Objektgeschichten. Es ist, als hole man das Judentum, das noch vor der Vernichtung der Menschen aus den Adressbüchern der Städte entfernt wurde, zurück in die Realität. Man holt es aus unvollständigen Überlieferungen und Verschwiegenheiten, befreit es aus Haushaltsauflösungen, bewegt es an die Oberfläche des Alltags, der auch die Sachsen mit ihren jüdischen Nachbarn verband und verbindet.
Wolfram Nagel treibt die Idee zur Besinnung auf Präsenz des Jüdischen seit mindestens 2013 um. Zum Judentum konvertiert, setzt sich der kürzlich in Rente gegangene Redakteur von MDR Kultur innerhalb eines Vereins für ein Jüdisches Museum ein. Interaktiv und lebendig könnte es im Austausch mit Polen und Tschechien nicht nur Judaica präsentieren, sondern auch zum Genuss jüdischer Küche einladen und sich als Begegnungsort anbieten. Ein Museum, scharf auf Seele, wenn man so will.
Im Sinne der Entwicklung eines solchen Ortes erfolgte im April 2021 ein einstimmiger Stadtratsbeschluss. Als Standort favorisiert der Verein um Wolfgang Nagel den 1837 im Dresdner Norden erbauten Alten Leipziger Bahnhof. Obgleich von Vergänglichkeit umwuchert, lässt das Industriedenkmal noch immer architektonischen Feinsinn erahnen. Zunächst für den Personen-Zugverkehr gedacht, diente er später ausschließlich als Güterbahnhof. 1942/1943 wurden jüdische Bürger Dresdens, darunter auch Kinder, von hier aus in die Todeslager deportiert.
Zur Konkretisierung eines Jüdischen Museums habe es bereits erste Gespräche zwischen Vertretern der Stadt und Vertretern des Kulturministeriums gegeben, so Thomas Feist, Beauftragter für jüdisches Leben in Sachsen. Auch die Staatskanzlei sei in die Gespräche eingebunden. Dass es ein längerer Prozess werde, sei aber abzusehen. Der Wunsch für den Standort, so Feist, hänge mit einer Empfehlung des Vorstands der Jüdischen Gemeinde in Dresden zusammen, der sich der Landesverband angeschlossen hat. Dass es daneben auch andere Meinungen gebe, ist dem CDU-Politiker bekannt.
Zu diesen anderen Meinungen gehört neben gewerblichen oder an Wohnraum orientierten Nutzungskonzepten auch jene von Dr. Herbert Lappe, der sich als ältestes aktives Mitglied der Dresdner Jüdischen Gemeinde nicht recht für den Alten Leipziger Bahnhof als Erinnerungsort erwärmen mag. Einen Wiederaufbau des einst ebenfalls von Semper entworfenen Oppenheim-Palais auf der Bürgerwiese nahe dem Dresdner Rathaus bewertet Herbert Lappe als geeigneter, jüdische Lebendigkeit zurück in die Stadt zu bringen.
Mit dem Konzept »Neue Heimat Dresden 2025« trat die sächsische Landeshauptstadt 2016 für den Titel zur Kulturhauptstadt an. Die vom Ifo-Institut festgestellte Minimierung des Zuzugs junger Menschen, die sich von Pegida und Fremdenfeindlichkeit abgeschreckt fühlen, bestätigte jedoch erst jüngst im August, dass Dresden dem Titel nicht gerecht geworden wäre.
Dresden sei eine Stadt ohne Visionen, meint Wolfram Nagel im Gespräch. Die Zahl der überwiegend russischsprachigen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde drohe derzeit wieder zu schrumpfen. Seit dem Anschlag in Halle ist das Sicherheitsrisiko für Juden zudem gewachsen. Ein Umstand, dem sich die Lokalpolitik seiner Einschätzung nach auch im Hinblick auf ein Museum nicht so gern stellen möchte.
Nichtsdestotrotz erging auch durch den Leipziger Kulturausschuss in der ersten Jahreshälfte eine Finanzierungs-Bewerbung an die Sächsische Landesregierung. Um an das blühende, jüdische Leben in der Messestadt zu erinnern, böte Leipzig ebenfalls ideale Voraussetzungen zum Aufbau eines Jüdischen Museums.
Und vielleicht reagiert Michael Kretschmer auf die Impulse zweier Städte des Freistaates Sachsen noch einmal richtig emotional oder gar begeistert. Denn so viel steht fest: Sachsen wäre ohne das Judentum in Dresden wie in Leipzig nicht das, worauf Ministerpräsident und Bürger heute ihren Stolz gründen.
Rethinking Stadtgeschichte, Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten, Stadtmuseum Dresden, bis 31. März 2022.
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