SS-Rottenführer Josi vor Gericht

100 Jahre alter Wachmann des KZ Sachsenhausen muss sich wegen Beihilfe zum Mord verantworten

  • Andreas Fritsche, Brandenburg/Havel
  • Lesedauer: 6 Min.

Langsam Schritt vor Schritt setzend kommt der Angeklagte Josef S. am Donnerstag in die Turnhalle an der Max-Josef-Metzger-Straße in Brandenburg/Havel. Die Halle wurde für seinen Prozess zum Gerichtssaal umfunktioniert. Josef S. war mehrere Jahre Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen. Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen wird ihm deswegen nun vorgeworfen. 100 Jahre ist er inzwischen alt, geht am Rollator. Sein Anwalt Stefan Waterkamp hält ihm eine Aktenmappe vors Gesicht, damit Kameraleute und Fotografen keine Aufnahmen vom Gesicht des Angeklagten machen können, solange sie noch nicht vom Richter hinausgebeten sind.

100 Jahre alt ist auch der Holocaust-Überlebende Leon Schwarzbaum. Er war Häftling in Sachsenhausen und zwei anderen Lagern, sitzt im Rollstuhl und lässt sich nahe an die Absperrung des Zuschauerbereichs schieben, um den Angeklagten zu sehen. »Er soll die Wahrheit sagen, ohne Ausreden«, wünscht sich Schwarzbaum. Die Frage, ob es nicht zu spät sei, die Naziverbrechen juristisch aufzuarbeiten, beantwortet Schwarzbaum eindeutig: »Es ist nie zu spät. Dass er alt ist und krank – ich bin auch alt und krank, aber ich stelle mich.«

Massenmord im Konzentrationslager

Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde im Sommer 1936 errichtet und bestand bis 1945. Von den mehr als 200 000 KZ-Häftlingen kamen Zehntausende ums Leben.

In Sachsenhausen taten im Laufe der Jahre Tausende SS-Leute Dienst.

Bis zum Jahr 2005 sind in der Bundesrepublik 257 Strafverfahren gegen 340 Tatverdächtige des KZ Sachsenhausen geführt worden. Auch vor sowjetischen Militärtribunalen und in der DDR fanden einige Prozesse statt.

Am 23. April 1961 wurde die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen eingeweiht.

Einer der Nebenkläger im Prozess gegen Josef S. ist der Niederländer Christoffel Heijer, dessen Vater als Sozialdemokrat Anfang Mai 1942 im KZ Sachsenhausen erschossen wurde. Der heute 84 Jahre alte Heijer sah seinen Vater das letze Mal, als er ein kleiner Junge von sechs Jahren war. Das war, bevor der Vater zusammen mit 70 anderen Widerstandskämpfern im März 1941 von der Gestapo festgenommen wurde.

Ein anderer Nebenkläger ist der Franzose Antoine Grumbach, dessen Vater 1940 über Algerien nach London zu gelangen suchte, um sich der Widerstandsbewegung von Charles de Gaulle anzuschließen. In Algerien 1942 verhaftet und nach Sachsenhausen verschleppt, kam der Vater in dem Lager um. af

Schwarzbaum hat ein Foto dabei, das ihn als jungen Mann mit seinen Eltern zeigt, die in Auschwitz ermordet wurden. Um sich an die in der Nazizeit erlebten Schrecken zu erinnern, benötigt Leon Schwarzbaum keine Fotos. Er hat die Bilder im Kopf. In seinen Träumen sieht er seine Peiniger, spürt die Peitschenhiebe und hört die Schüsse, mit denen beim Todesmarsch Kameraden getötet werden, die erschöpft liegen bleiben. Schwarzbaum bekräftigt: »Er soll die Wahrheit erzählen, die reine Wahrheit. Was er da gemacht hat.«

Doch das wird Josef S. nach gegenwärtigem Stand nicht tun. Verteidiger Waterkamp kündigt an, sein Mandant werde am Freitag Angaben zu seinem Leben machen, sich jedoch nicht zu den Vorwürfen der Anklageschrift äußern. Dabei scheint Josef S. sonst kein schweigsamer Mann zu sein. Wie zu Beginn von Gerichtsverhandlungen üblich, werden seine Personalien abgefragt: Wie er heißt? Josef Soundso, Spitzname Josi, geboren in Litauen, deutscher Staatsbürger. 1947 hat er geheiratet. Die Frau ist aber schon 1986 verstorben. Hier gerät der Angeklagte fast ins Plaudern, erzählt mehr, als der Richter zu diesem frühen Zeitpunkt des Verfahrens wissen muss und will und den Redefluss des 100-Jährigen deshalb unterbricht.

Auch beim Verlesen der Anklageschrift mischt sich Josef S. ein, schüttelt einmal den Kopf, als seine einzelnen Stationen im SS-Totenkopfsturmbann aufgezählt werden und ruft irgendetwas Unverständliches. Sein Rechtsanwalt muss ihn da und später erneut mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger ermahnen, nicht dazwischenzureden und sich alles ruhig anzuhören.

Schon für Unbeteiligte ist schwer auszuhalten, was in der Anklageschrift zur Sprache kommt: Die Erschießung von 250 bis 300 sowjetischen Kriegsgefangenen pro Tag – nicht mehr als 90 Sekunden Zeit nehmen sich die Mörder für jedes ihrer Opfer. Diese müssen sich in einem Raum ahnungslos an eine Messlatte stellen. Dann kommt das Kommando »fertig« und ein nebenan verborgener SS-Mann schießt dem Gefangenen mit einer Pistole durch ein Loch in der Messlatte ins Genick. Die Leiche wird weggeschleift, das Blut mit einem Wasserschlauch weggespült. Sogleich muss der nächste Gefangene eintreten. Den Schuss hat er nicht gehört. Der Knall wird durch laute Musik aus einem Radio übertönt.

»Die Wachkompanien und mit ihnen der Angeklagte unterstützten die Tötung der sowjetischen Kriegsgefangenen, indem sie die Baracken bewachten«, führt Oberstaatsanwalt Cyrill Klement aus. Sie bejahten demnach auch die lebensfeindlichen Bedingungen im Lager, die planmäßige Unterernährung der Häftlinge, dass diese im Winter keine warme Kleidung bekamen, zu Schwerstarbeit angetrieben und zu stundenlangem Stehen bei Appellen genötigt wurden. Das kostete Tausende Menschenleben. Zudem wurden Häftlinge in der Tötungsstation Z mit Zyklon B vergast. Oberstaatsanwalt Klement beschreibt das in allen Einzelheiten, schildert das qualvolle Ersticken und wie sich die Opfer verzweifelt die Haut zerkratzten. »Wissentlich und willentlich« hätten die Wachmänner dies alles unterstützt. Josef S. »hatte Kenntnis von den praktizierten Tötungsarten und billigte diese«, so Klement. Flucht und Revolten zu verhindern, sei seine Aufgabe gewesen bei den zehn bis zwölf Stunden Dienst pro Tag auf Wachtürmen, in Postenketten und bei Außenkommandos – immer mit einem Gewehr bewaffnet.

Rechtsanwalt Thomas Walther hat die Reaktionen des Angeklagten registriert: Eine gewisse Unruhe, als von der Erschießung der sowjetischen Kriegsgefangenen die Rede ist, und vorher ein Schmunzeln, als der ehemalige SS-Rottenführer über sein hohes Alter spricht – am 16. November ist sein 101. Geburtstag. Walther machte sich zu diesen Gefühlsregungen Notizen. Er vertritt etliche Hinterbliebene von KZ-Opfern, beispielsweise aus Frankreich, Israel und Peru, die an dem Prozess als Nebenkläger beteiligt sind. Walther will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich Josef S. zu den Vorwürfen äußert. »Im Laufe des Verfahrens wird sich zeigen, ob wir den Angeklagten intellektuell noch erreichen können, damit er die Dinge sagt, die die Öffentlichkeit interessieren«, erklärt Walther. »Vielleicht kommt er noch zu der Einsicht: Ich will doch etwas erklären.«

Das sei vielen Hinterbliebenen der Opfer wichtig, sagt Axel Drecoll, Leiter der Gedenkstätte Sachenhausen. Dies sei ein Grund, warum die juristische Aufarbeitung auch so lange nach dem Zweiten Weltkrieg noch von Bedeutung sei.

Nimmt man zufällige Begegnungen zum Maßstab, scheint die Stimmung in der Bevölkerung von Brandenburg/Havel eine andere zu sein. Ein Taxifahrer und drei Frauen an einer Straßenbahnhaltestelle schütteln verständnislos den Kopf, dass ein so hochbetagter Mann noch vor Gericht gestellt wird. Der Taxifahrer freut sich sogar darüber, dass in einem ähnlichen Fall vor Kurzem eine 96-jährige ehemalige Sekretärin des KZ Stutthof frühmorgens floh, als ihr am Landgericht Itzehoe der Prozess gemacht werden sollte. Sie entwich mit einem Taxi. Das verleitet den Taxifahrer in Brandenburg/Havel dazu, den Chauffeur der KZ-Sekretärin grinsend und vergnügt aufs Lenkrad schlagend einen »Super-Taxifahrer« zu nennen. Die Frau wurde schließlich von der Polizei gefasst.

Der ehemalige SS-Rottenführer Josef S. lebt in Brandenburg/Havel, deshalb auch hat das Landgericht Neuruppin das Verfahren hierher verlegt. Denn eine lange Anreise des Angeklagten würde von der Zeit für den Prozess abgehen. Ohnehin ist er ärztlich nur für wenige Stunden am Tag für verhandlungsfähig erklärt worden. Offensichtlich hört S. schlecht. Doch dieses Problem bekommt das Gericht mit einem Kopfhörer für ihn in den Griff. Am Donnerstag wird der Prozess bereits nach knapp einer Stunde vertagt. An diesem Freitag sollen die Nebenkläger Christoffel Heijer und Antoine Grumbach zu Wort kommen. Ihre Väter wurden als Widerstandskämpfer in Sachsenhausen ermordet.
Wegen der Bedeutung des gesamten Verfahrens für die Geschichtswissenschaft wird eine amtliche Tonaufnahme davon gemacht, was bei Gericht äußerst selten ist.

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