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  • »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«

Verloren in der Stadt der Freude

An der Komischen Oper Berlin ist Bertolt Brechts und Kurt Weills «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» zu erleben

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 12 Min.

Alle wahrhaft Suchenden werden enttäuscht«, heißt das achte Bild der Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« mit dem Text von Bertolt Brecht und der Musik von Kurt Weill. Drei vor der Polizei flüchtende Gestalten mit sprechenden Namen - die Witwe Begbick, der Prokurist Fatty und der Dreieinigkeitsmoses (eindrucksvoll: Jens Larsen) - haben in der Wüste die »Netzestadt« Mahagonny gegründet, eine Stadt, in der Menschen gefangen werden wie in den Maschen eines Netzes, um ihnen ihr Geld abzunehmen. Vier Holzfäller sind nach sieben harten Jahren aus Alaska, wo sie einiges Geld gemacht haben, nach Mahagonny gekommen, um ihr Leben zu genießen. Doch die Hauptfigur Jim Mahoney stellt fest, dass in der Goldstadt »etwas fehlt«. Die versprochenen Verheißungen (»Hier gibt es Spaß«, »Nicht leiden und alles dürfen«, »Sieben Tage ohne Arbeit«) sind ausgeblieben. Stattdessen hat er nur Verbotsschilder gesehen. Er singt: »Ich glaube, ich müsste nach Georgia fahren« - bloß weg von hier! Denn »etwas Schlechteres gab es nicht« als dieses Mahagonny, findet Jim, »und etwas Dümmeres fiel uns nicht ein / Als hierherzukommen«. Er pinkelt dem Salonpianisten im Hotel »Zum Reichen Mann« erbost in den Rücken und wischt die Hände an dessen Frack ab - Mahagonny ist schlicht ein »Dreckhaufen«! Mahoney zückt erst seinen Revolver, mit dem er in die Luft schießt - »hier ist nichts los!« -, dann sein Messer.

Aber er habe doch »Ruhe, Eintracht, Whiskey und Mädchen«, beschwören ihn seine Kumpel, »du kannst schlafen, rauchen, angeln, schwimmen!« Was also will ein Mann mehr? Der Chor singt: »Ru-he! Ru-he!« Jim aber: »Haltet mich zurück, sonst gibt es ein Unglück«. Er steigt auf einen Tisch, die Menge und der Solist stürzen sich in einen aberwitzigen mehrstimmigen Gesang und eine wilde Szenerie, eine furiose Steigerung. Dann plötzlich Stille. Jim - der spielfreudige Heldentenor Allan Clayton - singt opernhaft das Totenlied der Goldstadt: »Ach, mit eurem ganzen Mahagonny / Wird nie ein Mensch glücklich werden / Weil zu viel Ruhe herrscht / Und zu viel Eintracht / Und weil’s zu viel gibt / Woran man sich halten kann.« Die Bühne ist mittlerweile fast dunkel, nur Jim kniet an der Rampe und holt aus, sich nach seinem Gesang das Messer in die Brust zu stoßen. Sollte die Geschichte von der abenteuerlichen Glücksstadt bereits vorbei sein? Mahagonny eine große Enttäuschung, alles Betrug?

Da ist aus dem Off eine Stimme zu hören: »Ein Hurrikan in Bewegung auf Mahagonny!« »Hurrikan« wird hier deutsch gesprochen, herrlich mit tiefem, betonten »u«. Eine barock anmutende, raffiniert fugierte Bläsermusik ertönt, die immer mächtiger wird und schließlich mit Streichern und Pauken dröhnt. Der Chor setzt ein: »Oh, furchtbares Ereignis / Die Stadt der Freude wird zerstört. Auf den Bergen stehen die Hurrikane / Und der Tod tritt aus den Wassern hervor.« Es ist das Bild von der Sintflut, das von Brecht eindringlich beschworen wird. Blitze zucken über der abgedunkelten Bühne, das Orchester donnert, Jim ringt immer noch kniend mit sich und der Welt. Ein Moment der Stille, aus dem wie durch ein Wunder ein an Bach angelehnter Choral aufsteigt, von Kontrabässen begleitet: »Haltet euch aufrecht, fürchtet euch nicht! Was hilft alles Klagen?« Und Jenny Hill, die Prostituierte und eine weitere der vielen desillusionierten Glückssuchenden, singt leise und traurig eine Reminiszenz an ihren früheren »Alabama-Song« über den Choral, kontrapunktiert von Jack: »Wo immer du hingehst / Es nützt nichts. / Wo du auch seist / Du entrinnst nicht. / Am besten wird es sein / Du bleibst sitzen / Und wartest / Auf das Ende.«

Der Vorschlag des eben noch »Ruhe und Eintracht« besingenden Holzfällers ähnelt dem der meisten Parteien und weiter Teile der Wirtschaft unserer Tage angesichts des Klimawandels: Es nützt alles nichts, wir wollen die Katastrophe nicht abwenden. Jim dagegen weiß: »Ruhe und Eintracht, das gibt es nicht, aber Hurrikane, die gibt es. Und gerade so ist der Mensch: Er muss zerstören, was da ist. Was ist der Taifun an Schrecken gegen den Menschen, wenn er seinen Spaß will?« Fun ist eben ein Stahlbad (Adorno), und »am schlimmsten ist der Mensch.«

Das Plädoyer angesichts des bevorstehenden Untergangs lautet: Anarchie! »Tuet nur, was euch beliebt. Tuet alles heut’ Nacht, was verboten ist. Singt mit uns alles, was lustig ist, weil es verboten ist. Singet mit uns!« Gesang und Tanz auf dem Vulkan also, denn jeden Tag kann ein Hurrikan kommen, der uns an das Leben geht. Die Szene mündet in den großen Lobgesang der neoliberalen Welt, in eine Ode an die gnadenlose Ellbogengesellschaft, wozu Kurt Weill seine immer noch zündende Musik komponiert hat, hier »im Blues-Tempo« zu spielen. »Denn wie man sich bettet, so liegt man / Es deckt einen keiner da zu. / Und wenn einer tritt, dann bin ich es / Und wird einer getreten, dann bist’s du!«

Ein Pfeil, der Hurrikan, läuft auf Mahagonny zu. Eine bedrohliche Musik, zerfetzte Bläsersounds, ein mannshoher Spiegel, auf dem der blitzende Pfeil zuckt (und in dem manchmal der Dirigent zu sehen ist), bewegt sich vom Bühnenende langsam auf uns zu. Beängstigende, leise Paukenschläge, vor sich hin wirbelnde Streicher. Schauspieler verkünden per Megafon: Der Hurrikan bewegt sich mit 120 Stundenmeilen auf Atsena zu. Atsena bis auf die Grundmauern zerstört. Die Geschwindigkeit steigt. In Pensacola 11 000 Tote. Totenmusik, ein beklemmender Trauermarsch mit wilden Steigerungen, Pauken und Trompeten künden vom nahenden Ende. Plötzlich Stille. Dann per Lautsprecher: Der Hurrikan hat um die Stadt Mahagonny einen Bogen gemacht. Von hinten wird der Spiegel zerschlagen, Jim Mahoney tritt hervor, und süßlicher Mädchengesang ertönt mit Hawaii-Gitarren-Begleitung (aus dem Himmel? aus der Hölle?): »O wunderbare Lösung / Die Stadt der Freude ward verschont. Der Tod tritt in die Wasser zurück.« Aus dem Off hören wir: »Und von nun an war der Leitspruch der Mahagonny-Leute das Wort ›Du darfst‹, wie sie es in der Nacht des Grauens gelernt hatten.« Mahoney geht zum Ende des ersten Teils langsam in die Tiefe der Bühne ab, während er sich in den auf die Bühnenmitte zulaufenden Spiegelwänden vervielfacht bewegt (das eindrucksvoll karge Bühnenbild und Licht: Klaus Grünberg).

»Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« wurde, nachdem es von Otto Klemperer an der Berliner Kroll-Oper wegen seiner »Krassheit« abgelehnt worden war, am 9. März 1930 im Neuen Theater Leipzig uraufgeführt. »Mahagonny« ist Brechts und Weills radikaler Entwurf zur Erneuerung der Gattung Oper: Nicht mehr »dramatische«, sondern »epische« Oper, nicht mehr bürgerlicher Genuss, sondern die Veränderung der Gesellschaft sollen Thema sein. Das Stück »stellt eben das Kulinarische zur Diskussion, greift die Gesellschaft an, die solche Opern benötigt«, schrieb Brecht. Im neuen Musiktheater soll nicht mehr »mit Suggestion«, sondern »mit Argumenten gearbeitet werden«. Es gehe um »die Welt, wie sie wird«, nicht, »wie sie ist«, denn: »das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken«.

Diese neue Oper wurde von den führenden zeitgenössischen Musik- und Theaterkritikern bewundert: Mahagonny stehe »entwicklungsgeschichtlich an der Spitze der musikdramatischen Produktion der Gegenwart« (Hans Heinz Stuckenschmidt); »Mahagonny soll ein Symbol, ein Abbild des Lebens sein, aber aus dem Symbol wird immer mehr, wird zum Schluss ganz die Demonstration wider den Kapitalismus« (Alfred Einstein). Die Uraufführung eines der bedeutendsten Musiktheaterstücke des 20. Jahrhunderts wurde zu einem der größten Theaterskandale der Weimarer Republik: Braune Horden störten die Darbietung mit Krawallen, Deutschnationale und Nationalsozialisten versuchten, das Stück vom Rat der Stadt verbieten zu lassen, was von der Mehrheit der bürgerlichen und der Arbeiterparteien abgelehnt wurde. Doch Theater in Essen, Oldenburg und Dortmund setzten das Stück daraufhin trotz vertraglicher Vereinbarungen ab. Es erlebte nach Leipzig lediglich vier weitere Inszenierungen inklusive einiger von den Intendanten gewünschte »Milderungen«. In Berlin musste Ende 1931 sogar das Theater am Kurfürstendamm für die Aufführungen angemietet werden, die Opernhäuser der Stadt hatten sich verweigert. Die Produktion mit Lotte Lenya und Trude Hesterberg und dem Dirigenten Alexander von Zemlinsky wurde ein Publikumserfolg und erreicht fast 50 Vorstellungen. Doch für die Nationalsozialisten wurde die Oper zum Paradebeispiel einer »entarteten Musik«. Und wie bei so vielen verfemten Werken hatte dieses Diktum eine furchtbare Wirkung über die Zeit des Faschismus hinaus: Brecht und Weill erlebten nach 1933 zu ihren Lebzeiten weltweit keine weitere Aufführung der Oper mehr.

Umso verdienstvoller ist, dass Intendant Barrie Kosky in seiner letzten Spielzeit als Intendant der Komischen Oper nun »Mahagonny« aus der Versenkung geholt und sehr gelungen inszeniert hat. Man fragt sich, warum die »Mahagonny«-Oper nicht zum Standardprogramm der Bühnen gehört. Der Text sprüht geradezu vor Anspielungen, klugen Zeilen, Bonmots und Zitaten für die Ewigkeit, fast wie bei Shakespeare. Brecht hat eine traumhafte und komisch-absurde, Samuel Beckett vorwegnehmende Eingangsszene geschrieben (ein schöner Regieeinfall, wie die drei Gründungsfiguren der Stadt mit ihren absurden Aussagen aus dem Theaterboden herausploppen!). Seine in absichtsvoll primitivem Kunstenglisch geschriebenen Songtexte wie der berühmte »Alabama-Song« gehen einem nicht mehr aus dem Sinn - und erst recht nicht mit dem bewusst kalt funkelnden Gesang der wunderbaren Nadja Mchantaf (es ist eben ein mal fordernder, mal sentimentaler Sopran, der das singt, keine grölende Männerhorde und auch nicht der große Jim Morrison). Sogar Sartres Aussage »die Hölle, das sind die anderen« aus dessen Stück »Geschlossene Gesellschaft« von 1944 hat Brecht hier gewissermaßen vorweggenommen.

Wir hören eine Musik, die sich allerlei Mittel von der Barockoper über den Belcanto-Gesang bis zur modernen Jazz- und Schlagermusik bedient und sie musikalisch bricht. An die Stelle illustrierender und psychologisierender Musik setzt Weill eine, wie er selbst sagte, »Zustandsschilderung«: »Die Musik ist hier also nicht mehr handlungstreibendes Element, sie setzt da ein, wo Zustände erreicht sind.« Unter der Leitung von Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis, der die Vielseitigkeit und die Tiefen der Partitur hervorragend auslotet, singen brillante Chorsolist*innen (Einstudierung: David Cavelius). Zusammen mit dem Orchester sorgen sie für eine faszinierend schillernde Aufführung.

Kosky setzt vor allem auf die von Brecht gezielt eingesetzten biblischen Zusammenhänge. »Mahagonny beginnt in einer Mischung aus Detektivkrimi und Stummfilm und endet in einer Variante der Passionsgeschichte«, meint Kosky im Interview mit Maximilian Hagemeyer für das Programmheft. Die Stärke dieser Inszenierung ist der sorgfältige Aufbau längerer Szenenfolgen. Kosky geht es nicht um den Klamauk einer Nummernrevue, auch wenn Text und Musik das auf den ersten Blick durchaus hergeben würden. Wie ein Dirigent, der eine lange Mahler-Sinfonie durchdenkt und die gesamte Entwicklung im Blick haben muss, statt lauter »schöne Stellen« aneinanderzureihen, denkt er diese Oper von ihrem Ende her und sorgt für die Entwicklung der Protagonisten.

Natürlich ist nicht alles gelungen - in der großen »Vergnügungsszene« zu Beginn zum Beispiel chargieren Chor und Komparsen eher wie in einer schlechten Degeto-Produktion, bei der man Schauspieler*innen gesagt hat, sie sollen die »roaring twenties« darstellen. Auch das Ende des Jim Mahoney vermag nicht so recht zu überzeugen: Brecht hat eine »Hinrichtung« auf dem elektrischen Stuhl geschrieben, Kosky hat die von Brecht geforderten Demonstrationszüge (»Für den Kampf aller gegen alle«, »Für die Teuerung«, »Für das Eigentum«, »Für die Enteignung der anderen«, »Für die Freiheit der reichen Leute« oder »Für die Tapferkeit gegen die Wehrlosen«) gestrichen und macht daraus eine lähmende, endlose Messerszene, in der jeder und jede dem Jim das Theaterklappmesser einmal in den Körper hineinstößt (nur seine Geliebte Jenny und der Dreieinigkeitsmoses verweigern sich). Vom Rang ruft einer »Scheiße!«, aus dem Parkett wird ihm »Schnauze!« entgegnet. Klar ist: Wir sollen verstehen, dass alle den Jim Mahoney umgebracht haben, der sich gegen das Diktat der Goldstadt vage aufgelehnt und schließlich das denkbar größte Verbrechen begangen hat, dessen man sich im Kapitalismus schuldig machen kann: kein Geld zu haben. Brecht stellte der Szene voran: »Viele mögen die nun folgende Hinrichtung ungern sehen. Aber auch sie würden unserer Ansicht nach nicht für ihn zahlen wollen.«

Aber das sind nur gering wiegende Einwände gegen eine im Ganzen großartige und an Höhepunkten reiche Inszenierung. Es gibt viele Szenen, Textzeilen und Songs, die noch lange im Gedächtnis haften bleiben: die zärtliche und anrührende Kranich-Liebesszene zwischen den beiden hilflos Liebenden Jim und Jenny etwa, der große moralisch-apokalyptische Choral »Lasst euch nicht verführen« und das bizarre »Spiel von Gott in Mahagonny« - bei Kosky fährt ein Affe auf einem ferngesteuerten Gott-Mobil auf der Bühne im Kreis herum, am Dach des dreiradähnlichen Vehikels die hebräische Inschrift »Emét« (Wahrheit, Beständigkeit, Treue). Dann fällt das »e« herunter und es steht »met« da: der Tod.

Eindringlich ist auch die Schlussszene, in der Jim erkennt: »Als ich diese Stadt betrat, um mir mit Geld Freude zu kaufen, war mein Untergang besiegelt (…) Die Freude, die ich kaufte, war keine Freude, und die Freiheit für Geld war keine Freiheit.« Musikalisch werden der Verführungs-Choral, der »Wie man sich bettet«-Song und einige solistische Einsprengsel zusammengeführt, während noch einmal der »Alabama-Song« im klagend zerfasernden Sopran über dem bitteren Choral schwebt wie eine ewige Sehnsucht nach der Whiskey-Bar, den hübschen Jungs und den »next little dollars«.

Die Mahagonny-Leute enden mit zur Selbstvergewisserung stetig wiederholten Sätzen wie »Können einem toten Mann nicht helfen«, und schließlich: »Können uns und euch und niemand helfen!« Ein furioser Schlusspunkt unter einer eindrucksvollen Inszenierung dieser epischen Oper, die uns Heutigen noch viel zu sagen hat. Denn gerade durch den demonstrativen Antikapitalismus bleibt Brechts/Weills »Mahagonny« so aktuell wie zum Zeitpunkt der Entstehung. Werden wir Brecht und Weill zuhören und beginnen, uns zu widersetzen und zu streiken? Oder werden wir uns den Verhältnissen ergeben, weil uns auf Erden sowieso nicht zu helfen ist, wie ein anderer Berliner Dichter vor 210 Jahren in seinem Abschiedsbrief schrieb?

Nächste Vorstellungen: 9., 14., 17., 21., 23. und 29.10., www.komische-oper-berlin.de

Bis zum 29.10. ist ein Mitschnitt der Premiere zu sehen unter: https://youtu.be/2jHAuqs5LaM

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