Hinter den Kulissen der Soldatenstadt

In Potsdam führt ein antimilitaristischer Stadtspaziergang zu teils verwehten Spuren der Geschichte

  • Wilfried Neiße, Potsdam
  • Lesedauer: 5 Min.

In Potsdam gebe es »nichts außer Himmel und Soldaten«, schrieb der Schriftsteller Heinrich Heine einmal. Inzwischen sind viele Spuren davon verweht, einige aber trotzdem noch zu entdecken. Das wird deutlich bei einem antimilitaristischen Stadtspaziergang am Donnerstagabend.

Carsten Linke vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam führt die etwa 15 Teilnehmer mit dem Ziel, »nicht auf Kulissen zu schauen, sondern hinter die Kulissen«. Ihm gehe es nicht darum, zu welchem architektonischen Schnickschnack hier oder da etwas anzumerken wäre, sagt er, sondern »die Stadt mit anderen Augen zu sehen«.

Ausgangspunkt ist das alte Rechenzentrum, das sich in seiner neuen Nutzung als Kunst- und Kreativhaus einem dezidiert antimilitaristischen Geist verschrieben hat. Daneben liegt das Gelände des historischen »Langen Stalls«, der als Exerzierhalle für die Potsdamer Garnison gedient hatte.

Zur Zeit von König Friedrich II. lebten 30 000 Menschen in der Stadt. Fast jeder dritte trug Uniform, was den Eindruck erklärt, den Heinrich Heine später von Potsdam gewann. Bürger mussten im Erdgeschoss ihrer Häuser zwei bis sechs Soldaten beherbergen. »Beweibte« Soldaten waren seltsamerweise die ersten, deren Unterbringung in Kasernen erfolgte. Desertieren wurde streng bestraft, der dritte Versuch endete am Galgen. Bauern der Umgebung waren angehalten, Flüchtige anzuzeigen, was ihnen hohe Belohnungen sicherte, berichtet Carsten Linke.

Die nächste Station, die Max-Dortu-Straße, erhielt ihren Namen in der DDR. Max Dortu beteiligte sich in der Märzrevolution von 1848 an den Kämpfen in Berlin und Potsdam. Dem preußischen Prinzen und späteren deutschen Kaiser Wilhelm I. verpasste er die berühmte Bezeichnung »Kartätschenprinz«, weil dieser den Truppen den Einsatz der Artillerie gegen das Volk befahl. 1849 wurde Dortu gefasst und hingerichtet.

Gegenüber dem Rechenzentrum erhebt sich das wuchtige brandenburgische Kulturministerium, einst errichtet als Militärwaisenhaus, zu DDR-Zeiten als Haus der Gewerkschaft genutzt. Vom herrschenden Geist im einstigen Waisenhaus sollte man sich keine übertrieben humanen Vorstellungen machen, erläutert Linke. Die Jungen wurden in Gewehr- und Tuchfabriken eingesetzt. Wenn sie das überlebten, wartete der Militärdienst auf sie. Die Mädchen wurden auf ein Leben als Magd oder Dienstmädchen vorbereitet. Rund 1400 Kinder wurden hier zusammengefasst, pro Jahr starben etwa 200. »Die dauernden Kriege sorgten immer wieder für Nachschub«, erklärt Linke. Seine Stadtführung wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg gefördert. Dies sei ein Beitrag im Zusammenhang mit dem 150. Geburtstag der Revolutionärin und Antikriegsaktivistin Rosa Luxemburg, der derzeit mit verschiedenen Veranstaltungen begangen werde, sagt Geschäftsführerin Julia Bär. Bei der Reichstagswahl 1912 hatte Luxemburgs politischer Weggefährte Karl Liebknecht den Wahlkreis Potsdam für die SPD gewonnen, im Ersten Weltkrieg stimmte er mutig gegen die Kriegskredite.

Nächste Station der Stadtführung ist das Glockenspiel der Garnisonkirche, errichtet auf Initiative von Bundeswehroffizieren, »die inzwischen als rechtsextrem eingestuft werden«, erfahren die Teilnehmer. Dass dieses Glockenspiel neuerdings unter Denkmalschutz steht, behagt Carsten Linke nicht. Gelten lassen würde er das allenfalls als Beispiel dafür, »wie sich der rechtsextreme Geist in Potsdam einschleichen konnte«.

Pfarrer Martin Vogel, Theologischer Vorstand der evangelischen Stiftung für den umstrittenen Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche, läuft bei dem Spaziergang mit. Er sei neugierig auf den interessanten historischen Zusammenhang zwischen Religion und Militär, erklärt er dies. Eine Kirche, die 1989 maßgeblich zum friedlichen Verlauf der Wende beigetragen habe, die habe 60 oder 70 Jahre zuvor eine ganz andere Rolle gespielt, sagt Vogel. Dies erscheine ihm untersuchenswert. Insofern halte er eine Veranstaltung zum Thema Religion und Friedfertigkeit für berechtigt.

Ob dies einfach damit zusammenhängt, dass die Kirchen im Klassenstaat zur Machtelite gehören, während dies in der DDR nicht der Fall war? Zeit, darüber nachzudenken, bleibt, bis der kleine Zug das Deserteursdenkmal auf dem Platz der Einheit erreicht. In Potsdams Partnerstadt Bonn durfte es nicht aufgestellt werden, in Potsdam fand es einen Platz, ist hier aber Anfeindungen ausgesetzt, sagt Linke, für den es prinzipiell ein Recht zu desertieren gibt. Veranstaltungen im Schatten des Denkmals tauchen im Verfassungsschutzbericht auf.

An dem zu DDR-Zeiten aufgestellten Denkmal gegen Faschismus und Krieg geht Linke achtlos vorbei zu der Stelle, an der früher eine Synagoge stand. Sie sei in der sogenannten Kristallnacht 1938 zerstört und ausgeplündert worden, aber nicht angezündet, wie es Synagogen damals anderswo erging. Die Brandstiftung blieb aus, damit nebenan »die schöne Post nicht mit abbrennt«.

Auch die Künstlerin Annette Paul hört Carsten Linke zu. Sie stamme aus der christlichen Friedensbewegung der DDR, sagt sie. Das Motto lautete damals: »Frieden schaffen ohne Waffen«.Sie war es, die vor Jahren die Idee hatte, am Landtag einen barocken Schriftzug in französischer Sprache anzubringen, der den Touristen erläutert: »Dies ist kein Schloss«. Denn die Fassade des Landtags ist dem Potsdamer Stadtschloss nachempfunden, das einst an dieser Stelle stand. Nun engagiert sich Paul gegen den laufenden Wiederaufbau der Garnisonkirche. Auch angesichts der beträchtlichen Höhe, die der Kirchturm bereits erreicht hat, will sie nicht aufgeben. Man könne den Weiterbau stoppen und die Kirche als unfertiges Mahnmal ihrer problematischen Geschichte auf die Einwohner und Besucher von Potsdam wirken lassen.

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